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Christian Moeller: Acht Wochen auf dem Rad

Alles mal hinter sich lassen, aufs Rad und einfach losfahren. Zum Beispiel 3.500 Kilometer von Norddeutschland nach Santiago de Compostela. So wie Autor Christian Moeller.

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Raus aus dem Trott, Schluss mit der Jagd von einem Termin zum anderen. Nicht mehr so viele Dinge wie möglich in die 60 Minuten einer Stunde packen. Der gestresste Mensch des 21. Jahrhunderts will endlich wieder zu sich selbst finden, das Leben genießen und die Dinge auf sich zukommen lassen.

Ich sitze im Café in Saint-Prex, Schweiz, Nordufer des Genfer Sees. Der erste Cappuccino des Tages schmeckt mit dem Blick über den See besonders gut. Kaffee können die Schweizer*innen kochen. Rund 1.600 Kilometer stehen auf dem Edge, meinem Fahrradcomputer. Noch nicht einmal die Hälfte des Weges von Schwerin nach Santiago de Compostela in Nordwestspanien ist geschafft.

Es ist der 20. Tag der Reise, seit ich in Norddeutschland aufgebrochen bin. Am Zaun vor dem Café steht das Rad. 27 Kilo Gepäck, der Sattel ist eingefahren. Heute will ich noch nach Genf oder an die französische Grenze. Oder darüber hinaus oder einfach nur irgendwohin, wo es schön ist. Mir doch egal. Ich genieße den Ausblick auf die Schweizer Alpen, die frische Luft vom See, den Cappuccino, die Sonne.

Rückflugticket? Ohne mich

Da kommt ein Ehepaar mittleren Alters im Fahrrad-Dress an meinen Tisch. Ihren Rennrädern sieht man an, dass sie nicht an Armut leiden. Edles Material.

Die Frau fragt ganz verlegen auf Französisch, ob das da am Zaun mein Rad sei und ob sie es vielleicht fotografieren dürfe. Bien sûr, pas de problème. Sie merkt, dass mein Französisch noch ein wenig holperig ist und redet auf Deutsch weiter. Wo ich her käme, wo ich hin wolle, wie lange ich schon unterwegs sei, wie mein Plan aussehe. Ich berichte kurz. Norddeutschland mit Ziel Santiago de Compostela. Wann ich ankomme, weiß ich noch nicht, einen Rückflug habe ich noch nicht gebucht. Es kommt, wie es kommt.

Der richtige Zeitpunkt ist jetzt

Ihre Augen verdrehen sich. „Ach, davon träume ich ja schon seit Jahren! Einfach mal ein paar Wochen aussteigen und machen, was ich will, mich treiben lassen. Aber wann soll ich das machen? Vielleicht, wenn ich in Pension bin.“ Die Jüngste ist sie nicht mehr. Aber das sagt man einer Schweizer Dame selbstverständlich nicht. Ich frage sie, wann sie denn Zeit hätte. Nächste Woche, nächstes Jahr, nächstes Jahrzehnt? Wenn sie sich die Zeit nicht nähme, hätte sie sie nie. Und mit 75 würden ihr die Knie wehtun oder das Herz nicht mehr mitmachen. Mein Kaffee ist inzwischen alle und bezahlt. Wir verabschieden uns.

Ich schwinge mich aufs Rad und fahre weiter Richtung Südwest. Das wird auch in den kommenden Wochen die bevorzugte Himmelsrichtung sein. Ein wenig denke ich während der folgenden Kilometer noch über die reiche, gestresste Schweizerin nach. Ich wünsche ihr, dass sie irgendwann den Mut findet, die Haustür hinter sich zu verschließen und loszufahren. Der See und das grauer werdende Alpenpanorama zu meiner Linken lassen mich aber schnell wieder im Hier und Jetzt versinken.

Bis ans Ende der Welt soll es gehen

Wochen vorher hatte ich den groben Plan gemacht. Von Schwerin nach Santiago de Compostela sollte es gehen. Erst quer durch Norddeutschland bis an den Rhein, dann flussaufwärts bis Basel, durch die Schweiz über Genf an die Rhône. Von dort aus ans Mittelmeer über die Pyrenäen. Und dann dem klassischen Jakobsweg durch Nordspanien folgend bis nach Santiago mit dem anschließenden Abstecher an die 100 Kilometer entfernte Atlantikküste in Finisterra – dem Ende der Welt.

  • Der Jakobsweg führt nach Santiago de Compostela, wo der Legende nach die Gebeine des Apostel Jakobus begraben sein sollen.
  • Verschiedene Wege aus ganz Europa vereinen sich hinter der französisch-spanischen Grenze zu einem Weg, dem „Camino Francés“. Von dort sind es etwa 900 Kilometer bis Santiago.
  • Kommunale Herbergen sind sehr günstig (vier bis sechs Euro pro Nacht), aber teilweise sehr einfach.
  • Private Herbergen sind etwas teurer (bis zwölf Euro), dafür meist besser ausgestattet. (Pilger*inausweis „Credenzial“ nicht vergessen!)
  • Fußpilgernde haben in den Herbergen Vorrecht. Aufgrund der großen Anzahl an Herbergen ist das aber in der Praxis kein Problem.
  • Um in Santiago die Pilger*innenurkunde zu erhalten, muss man die letzten 200 Kilometer per Rad zurückgelegt haben und das mit den Stempeln im Pilger*inausweis nachweisen.
  • Die Rückreise von Santiago geht am einfachsten per Flugzeug.
  • Ein Fahrradladen in Santiago verpackt und verschickt gegen eine Gebühr von rund 100 Euro das Rad an die Heimatadresse.

Jeder Start ist hart

Doch der Anfang ist das Schwerste. Am ersten Morgen nach dem Start frage ich mich beim Aufwachen im klammen Zelt, was ich hier eigentlich mache. „Ich breche den ganzen Quatsch ab, rufe zu Hause an, meine Frau soll mich abholen. Ich bin ja nur 100 Kilometer entfernt, da kann sie in eineinhalb Stunden hier sein. Gut, ich müsste mir dann mein Scheitern eingestehen. Und wenn andere das als Niederlage sehen, ist es ihr Problem.“

Gedanken, die einem besonders zu Beginn einer langen Tour morgens durch den Kopf schießen, wenn das Zelt nass, der Schlafsack klamm, das Hirn noch nicht auf Betriebstemperatur ist. Und vollkommen unklar ist, wo der erste Kaffee herkommen soll. Das sind die Momente, in denen man nicht daran denkt, was für ein Privileg es ist, sich einfach ein paar Wochen auszuklinken, keinerlei Verpflichtungen zu haben, nur den inneren Antrieben und der eigenen Lust zu folgen. Im Kopf dreht sich vieles noch darum, ob man die kommende Etappe schafft, wo man am nächsten Abend schläft, ob es am Ziel einen Supermarkt zum Einkaufen gibt oder wieso die Kette am Rad so eigenartige Geräusche macht.

Entspannung als Prozess

Uns modernen, zivilisierten, urbanisierten Zeitgenoss*innen fällt es schwer, von einem auf den anderen Tag zu sagen: „Jetzt bin ich entspannt! Ommmm!“ Man könnte bei einer Erkältung auch sagen: „Jetzt bin ich gesund!“ Hilft nichts. Entspannung auf einer langen Reise ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Auf einmal merkt man, es gibt eigentlich nur noch wenig Dinge, um die man sich kümmern muss. Hab ich noch genügend Bargeld in der Tasche? Lass ich bei keiner Übernachtung wichtige Dinge liegen? Sind die Trinkflaschen voll und fahr ich keine unnötigen Umwege über ebensolche Höhenmeter?

Sehnsucht macht süchtig

Birgit sitzt in der Herberge in Murias de Rechivaldo in der Küche. Seit ein paar Wochen arbeitet sie ehrenamtlich als Hospitalera. Sie kümmert sich um ankommende Pilger*innen, kocht für alle am Abend, zeigt ihnen ihre Schlafplätze und putzt morgens, wenn die letzten Pilgernden die Herberge verlassen haben. Wenn die meisten schon schlafen, gießt sie sich einen Rotwein ein und erzählt den Übriggebliebenen, warum sie jeden Sommer in diesem gottverlassenen Dorf auf dem Jakobsweg kurz hinter Astorga am Rand der Berge strandet.

Vor Jahren war sie mit ihrem Mann mit dem Auto in Nordspanien unterwegs. An einer markanten Stelle des Jakobswegs kurz hinter Murias de Rechivaldo stoppten sie. Sie sah die Pilger*innen mit ihren Rucksäcken den Weg gehen und meinte zu ihrem Mann, dass sie das auch gerne mal täte. Der erwiderte nur, er sei ja nicht bei der Infanterie und würde nicht im Urlaub zu Fuß unterwegs sein wollen.

Der Mann ist inzwischen gestorben und Birgit danach den Weg gegangen. Aber nur bis zu der Stelle, an der sie damals das Gespräch mit ihrem Mann führte. Weiter würde sie sich nicht trauen. Sie habe Angst vor dem Ankommen in Santiago, weil sie nicht wüsste, was sie danach machen solle. Bis zu der Herberge, in der ich sie traf, war sie schon ein paarmal gegangen. „So erhalte ich mir meine Sehnsucht“, sagt sie.

Dann ist dann!

Ich hatte mir beim Aufbruch nicht groß Gedanken gemacht, wie viele Kilometer es bis Santiago sind. Dreitausend noch was. Auf ein paar mehr oder weniger kommt es dann auch nicht an. Klar ist man stolz wie Bolle, wenn die Hundert-, Zweihundert- und Dreihundert-Kilometer-Marke überfahren wird. Zu diesem Zeitpunkt wird man oft angesprochen, wo man hinfahren will. Wo man her kommt, ist weniger interessant. Es wird schon irgendwo in der Nähe sein. Und durch die Sprache verrät man sich schnell als Norddeutscher.

An dem Tag, als ich die Dame aus der Schweiz animieren wollte, auch einfach mal alles sausen zu lassen, fragte ich mich abends, wann es auf dem Weg nach Santiago wechseln würde. Wann kommt häufiger die Frage, „wo kommst du her“ als „wo willst du hin“? In Nordspanien mit vollbepacktem Rad ist es klar, wo man hinwill. An denselben Ort, zu dem die gefühlt 10.000 Menschen mit Rucksäcken auch wollen. Aber da hat man schon fast 3.000 Kilometer und ein paar Wochen Landstraße in den Beinen. Die Frage wohin und woher ist für einen selbst schon längst geklärt.

Man kann auch schieben

Die beiden Damen waren schon aus Entfernung als kleine Punkte am Horizont zu erkennen. Die spanische Hochebene ist flach wie ein Waschbrett und man kann problemlos 20 oder 25 Kilometer nach vorne schauen. Die zwei kleinen Punkte kamen näher, Radfahrer*innen konnten es also nicht sein. Fußgänger*innen aber auch nicht; dafür wurden die Punkte zu groß. Schließlich kam ich so nah, dass ich erkennen konnte, es handelt sich um zwei Frauen, die ihre Räder schieben. Wir kamen ins Gespräch. Die beiden waren Deutsche und stammen aus Tübingen. Beide gut über 70 Jahre alt. Eine hatte es mit den Knien, deshalb kamen ein schwerer Rucksack und jeden Tag 20 oder 25 Kilometer zu Fuß nicht in Frage. „Wir fahren immer ein Stück und wenn es zu beschwerlich wird, schieben wir.“ Sie wollten auch nach Santiago. Von dort, wo ich sie traf, ist es mit dem Rad noch eine gute Woche, zu Fuß mögen es drei sein. Das brachte die beiden Damen nicht aus der Ruhe. „In zwei Monaten muss ich wieder in Tübingen sein, da heiratet mein Sohn“, relativierte sie alle Fragen nach Plänen. Nur manchmal falle es ihr schwer, das Rad den Berg hochzuschieben.

Entrümple deine Taschen und deinen Kopf

Abends beim kühlen Bier in der Herberge kam eine der beiden mit ihren bepackten Fahrradtaschen zu mir. Die Dinger seien so schwer, ob ich nicht mal mit der Erfahrung des Weitgereisten schauen könnte, ob sie irgendwelchen entbehrlichen Kram bei sich habe. Etwas verlegen kramte ich in den Utensilien einer Fremden. Die Damen waren gut ausgerüstet und auf alle Eventualitäten vorbereitet. Aber 500 ml Flaschen Haarshampoo, das große Paket Papiertaschentücher, diverse Töpfe und Bestecke sowie den doppelten Fleece-Pullover sortierte ich aus. „Alles in einen großen Karton stecken und am nächsten Postamt ab nach Tübingen damit.“ Der Dame war das Glück über die Befreiung von Ballast am Gesicht anzusehen. Es ging nicht nur um die paar Hundert Gramm weniger in den Taschen.

Gelassenheit zulassen

Ob die Dame am Genfer See aus ihrem Trott rausgekommen ist, Birgit endlich die verbliebenen Kilometer nach Santiago gegangen ist und die beiden Radschieberinnen rechtzeitig zur Hochzeit wieder in Tübingen waren, weiß ich nicht. Sicher ist soviel: Eine weite Reise aus eigener Kraft verändert. Relationen und Prioritäten verschieben sich. Das Loch, das einen am Ziel überkommt, wenn man sich fragt, was jetzt folgt, wohin man morgen fährt, ist schnell überwunden. Gelassenheit überwiegt. Man muss sie nur zulassen.

Fünf Tipps für die lange Tour

  1. Klär das mit deinem Zuhause. Entspannung funktioniert nicht, wenn der Haussegen schief hängt.
  2. Mache dir keinen zu detaillierten Plan. Es kommt sowieso anders.
  3. Nimm dir Zeit. Wenn du dein Ziel schnell erreichen willst, könntest du auch das Flugzeug nehmen.
  4. Teil dir deine Kräfte ein. Ein Marathonlauf wird auch nicht auf den ersten Hundert Metern gewonnen.
  5. Komm mit dir selbst aus. Du wirst nicht überall Gleichgesinnte treffen. Einsamkeit kann anstrengender sein als Gegenwind.
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