Body & SoulRunning

Gegner Schmerz: Der Trauer davonlaufen

Tanja Schönenborn hat mit dem Sport vieles in ihrem Leben verändert. Und sogar den größtmöglichen Schmerz verarbeitet. Ein Gastbeitrag.

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Vor ein paar Jahren war ich noch ein anderer Mensch. Ich war Mitte dreißig, unsportlich, ernährte mich ungesund und führte ein unbewusstes Leben. Ich lebte mit meinem Mann eine Beziehung, in der ich mich nicht mehr wohl fühlte. Ähnlich ging es mir mit meinem Umfeld. Ich war einfach nicht glücklich. Ich wollte raus. Ich wollte ein zweites Leben. Kurz nach Weihnachten im Jahr 2015 stellte ich mich auf die Waage. 83 Kilo auf 1,64 Meter – das war zu viel. Ich überlegte, was ich dagegen tun kann, griff meine Schuhe und ging drei Kilometer im Wald laufen. Diese 30 Minuten haben mein Leben verändert.

Laufen half mir nicht nur schnell beim Abnehmen, sondern entspannte die gestresste Seele. Von Lauf zu Lauf ging es mir besser. Die täglichen Laufrunden gaben mir Kraft und veränderten mein Leben.

28 Kilo in zwei Jahren verloren

Wenn ich mir etwas vornehme, dann mache ich das auch zu hundert Prozent. Ich trainierte von Beginn an sehr ambitioniert. Ich war kaum zu bremsen. Konsequent stellte ich mein Leben um, änderte meine Ernährung. Ich lief nach einem Jahr den ersten Marathon. Ich machte die Ausbildung zum Personal Trainer, weil ich mich selbst richtig trainieren und auch anderen helfen wollte. 28 Kilo nahm ich in knapp zwei Jahren ab. Ich wurde ein anderer Mensch, und das nicht nur optisch.

Bei einem Nachtlauf durch Köln über 75 Kilometer lernte ich Rafael kennen. Später, nach ein paar Umwegen über Social Media, haben wir uns privat zum Laufen verabredet. Wir genossen jede Sekunde auf der Strecke. Uns gingen auch auf den längsten Runden nie die Themen aus. Wir fanden uns. Wir verliebten uns.

Rafael ist vielleicht Deutschlands bekanntester Wüstenläufer, ein Vollprofi. Er hat die härtesten Rennen der Welt gemeistert. Mit ihm an meiner Seite wagte ich plötzlich neue sportliche Herausforderungen.

Tanja Schjönenborn mit ihrem Partner beim Langstreckenrennen in der Mongolei
Rafael und Tanja fühlen sich auch in der Weite der Mongolei nicht verloren. © RacingThePlanet

Als ehrgeizige Person tat das weh

Anfangs war das nicht leicht. Beim Laufen musste ich zunächst mit einem neuen Schmerz umgehen, dem Schmerz der Niederlage. Ich kam bei meinen ersten beiden Ultra-Rennen relativ abgeschlagen als Letzte ins Ziel. Alle anderen waren vor mir da. Mir, als sehr ehrgeizige Person, tat das weh.

Ich liebe das Laufen und ich trainiere nicht nur für tolle Platzierungen und persönliche Bestzeiten. Aber die Zweifel kriechen trotzdem in die Glieder. Bin ich gut genug für das, was ich mache? Halte ich andere, besonders Rafael, auf?

Ich stellte mir diese Frage auch auf dem Weg in die Mongolei. Der „Gobi March”, ein 250 Kilometer langes Etappenrennen durch die mongolischen Wüsten- und Steppenlandschaften, sollte mein dritter Wettkampf über die Ultra-Distanz sein. Ich zweifelte an mir und dem Vorhaben, obwohl ich so intensiv wie noch nie zuvor trainiert hatte. Würde ich wieder Letzte werden? Würden wieder alle auf mich warten? Bin ich bereit für die Herausforderungen, die ich hier wage, oder sollte ich aufhören? Mache ich mir was vor? Diese Fragen kamen immer wieder.

Nicht nochmal Letzte sein

Bei der Ankunft in der Mongolei spülte der Anblick des Teilnehmerfelds meine Ängste zunächst fort. Wir waren alle so unterschiedlich. Wir waren sehr jung oder etwas älter, eher dünn oder eher dick, trugen große oder schmale Rucksäcke. Es liefen überraschend viele Läuferinnen im Teilnehmerfeld. Ein Athlet bewältigte die komplette Strecke mit einem Fußball (er kam auch mit dem Ball im Ziel an). Ein anderer trug die ganze Zeit Badelatschen. Ich wusste, dass es in dieser Umgebung keine Rolle spielt, ob ich Erste oder Letzte werde. Wir waren eine tolle Gemeinschaft.

Doch am ersten Renntag sah ich kurz vor dem Etappenziel eine Frau zügig zu mir aufschließen. Ich hatte mich beim Lauf gut gefühlt und einen schnellen Tritt gefunden. Aber in diesem Moment dachte ich, trotz des rundherum tollen Gefühls am Vortag: „Nein, ich will mich nicht wie früher überholen lassen.“

Dieser Gedanke motivierte mich. Ich beschleunigte und lief so schnell ich konnte, erst einen Hügel hoch und dann hinab. Eigentlich viel zu schnell für den steilen Abhang. Aber ich wollte die Frau unbedingt überholen. Und ich schaffte es. Im Ziel empfing mich Rafael und sagte, dass ich Siebte in der Tageswertung geworden sei und wie gut meine Zeit sei. Selten war ich glücklicher. Am Ende kam ich nach einer Woche als Fünfte der Gesamtwertung im Ziel an. Ich, die kurz zuvor noch in einem anderen Körper, in einem anderen Leben steckte, die nicht viel Selbstvertrauen hatte, traute mir nun fast alles zu.

Läufer warten auf das Startsignal beim Gobi March 2018
Ein illustres Teilnehmerfeld wartet auf den Etappen-Start beim „Gobi-March“. Tanja wird am Ende Fünfte. ©RacingThePlanet

Die Riesenchance „The Track”

Ich erzählte sogar bei einem Vortrag von Rafael vor 200 Augenpaaren meine Story aus der Mongolei. Sie folgten mir aufmerksam. Was mir früher vielleicht Angst gemacht hätte, machte mich nun glücklich. Dieses positive Resultat spornte mich in allen Lebenslagen unglaublich an. Ich strotzte jetzt vor Selbstvertrauen. Ich wollte mehr.

Und ich sollte mehr bekommen. Wir meldeten uns bei „The Track” in Australien an. 522 Kilometer durch das australische Outback. Bei sengender Hitze in dichten Staubwolken. Das ZDF hatte angefragt, ob mich ein Kamerateam für eine Reportage begleiten könne. Eine Riesenchance für mich und für uns als Paar.

Bevor ich durch den Sport ein neues Leben und eine neue Liebe kennenlernt habe, war ich kaum gereist. Mit Rafael war ich das erste Mal überhaupt eine Langstrecke geflogen. Ich war so nervös, dass ich an Bord eine Spucktüte benötigte. Ein Leben ohne Abenteuer, Spaß, Herausforderung und Reisen ist für mich heute undenkbar. Ich habe mir dieses Leben sozusagen erlaufen.

Und dann, kurz vor Australien, alles war gebucht, kam da ein neues Leben dazu. In meinem Bauch wuchs ein Kind heran.

Tanja Schönenborn & ihr Partner Rafael blicken nach einem Rennen glücklich in die Kamera
Andere haben Schmerzen beim Laufen. Tanja und Rafael finden auf den Meilen ihr Glück. © RacingThePlanet

Ein Wunder der Natur

Eigentlich war es ein Wunder, dass ich überhaupt schwanger wurde. Ich bin 38. Rafael ist 58. Ich nahm die Pille. Das Thema Kinder war für uns schon lange abgeschlossen. Zu der Zeit trainierten wir beide außerdem wie Verrückte. Wir wollten ja an „The Track” in Australien teilnehmen.

Dann war da dieser Freitag. Ich lief eine 25 Kilometer lange Trainingsrunde, als ich plötzlich keine Lust mehr hatte. Das war mir noch nie passiert. Ich kann nicht genug vom Laufen kriegen. Auf einmal bin ich stehen geblieben und danach nur noch langsam gegangen. Abends gönnte ich mir gerne ein Glas Wein zum Abendessen, aber nun war mir nicht mehr danach. Ich hatte keinen Appetit.

Auch am nächsten Tag, als ich mit meinem Mann trainierte, hatte ich keine Lust auf Sport und stoppte auf halber Strecke. Ich mochte nicht mehr. Rafael scherzte, dass ich wohl schwanger sei. Wir glaubten das beide nicht, doch besorgten wir uns noch am selben Nachmittag einen Test.

Am nächsten Morgen zitterte ich am ganzen Körper vor Aufregung. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich machte den Test und Augenblicke später kletterte ich mit Freudentränen zurück ins Bett. Ab diesem Moment fühlte ich mich als Mutter. Wir uns als Eltern. Wir brauchten nicht lange, um uns zu freuen. Australien, das ZDF – das sagten wir gerne ab. Wir waren fasziniert von unserer Geschichte. Dieses Baby, das trotz der großen sportlichen Belastung und der Verhütung in mir heranwuchs, musste besonders stark sein.

Funktionieren wie eine Maschine

Nur ein paar Wochen trug ich mein Kind im Bauch. Und dann war es plötzlich nicht mehr da. Ich erlebte eine Fehlgeburt. Ich fühlte doch schon wie eine Mutter und wollte dieses Kind beschützen. Aber die Natur hatte anderes im Sinn.

Als ich die Nachricht von meiner Ärztin bekam, funktionierte ich im Krankenhaus wie eine Maschine. Erst nach den Behandlungen und Terminen platzte zuhause alles aus mir heraus. Ich hasste die Welt. Auch die Menschen, die ich eigentlich liebe. Ich saß vor unserem Haus in der Sonne und trank viele Gläser Wein. Meine Wut suchte und fand einige Ventile. Ich versank wieder in fragenden Selbstzweifeln. Warum ich? Warum jetzt? Was habe ich falsch gemacht?

Ich trank irgendwann keinen Wein mehr, aber die Wut über den Verlust blieb. Nur zwei Tage nach unserem geplanten Abflug nach Down Under hatte ich ja die Nachricht bekommen, dass unser Kind niemals geboren werden sollte. Auf Facebook sah ich nun die Bilder von Bekannten in Australien. „The Track” im Outback war ein fantastisches Event. Alle teilten begeistert ihre Fotos. Und ich? Ich hockte in unserem schönen Haus, mit den Pferden und dem Hund, und konnte dieses gute Leben, das ich hatte, kaum noch schätzen. Ich spürte Neid auf andere, obwohl ich kein neidischer Mensch bin. Ich hatte nicht nur mein Kind verloren. Nein, ich hatte auch die größte Chance in meinem Sportlerleben aufgegeben.

Ein Läufer kämpft sich durch die Sanddünen von Marokko.
Verloren in Marokko. Ein Läufer kämpft sich durch die Sanddünen. ©RacingThePlanet

Der weiße Strand

Rafael holte mich aus diesem Loch. Er hatte über einen französischen Kontakt die Möglichkeit bekommen, zwei Startplätze für ein Event in Marokko zu erwerben. 80 oder 130 Kilometer durch die Wüste Nordafrikas. „La Plage Blanche” hieß das Rennen, der weiße Strand. Wir grübelten. Der Lauf würde drei Wochen nach meiner Fehlgeburt beginnen. Kam das zu früh? Konnten wir das machen?

Ich war durch die „The Track”-Vorbereitung gut trainiert. Aber der Stress und die Trauer hatten meinem Körper zugesetzt. Trotzdem spürte ich die Lust und das Verlangen nach dieser Herausforderung. Ich wollte raus. Es war für uns beide die Zeit gekommen, diese traurige Episode zu beenden, und dieser Lauf sollte uns den Rahmen dafür geben. Das war unser Gedanke.

Ich ließ mich medizinisch durchchecken. Meine Ärztin attestierte mir die Wettkampffähigkeit. Wir flogen also nach Afrika. Ich hatte ein einziges Ziel, das ich erreichen wollte: Ankommen. Auf der Strecke und im normalen Leben.

Ein doppelter Sieg

Am Tag des Rennens glühte die Sonne vom Himmel. Der Gegenwind blies die heiße Wüstenluft in unsere Gesichter. 50 Kilometer pro Stunde und mehr. Der Sand in der Wüste war tief, ganz anders als in der Mongolei, wo wir Sportler meist über den robusten Steppenboden gelaufen waren. Jeder Schritt war eine Anstrengung. Und wenn es nicht über den Sand ging, dann stiegen wir über Geröllfelder mit messerscharfen Kanten.

Trotz der Herausforderungen gewann ich diesen Lauf in der Frauenklasse. Ich brauchte 15,5 Stunden. Es war mein erster Sieg bei einem Ultra-Rennen. Meine Wut hatte ich in Energie umgewandelt. Sie musste raus. Selten zuvor hatte ich mich so kraftvoll und gleichzeitig so verletzlich gefühlt wie in Marokko. Rafael und ich liefen zusammen, manchmal redeten und manchmal schwiegen wir. Wir fanden uns wieder.

Machen, was glücklich macht

Rückblickend hatte dieser Lauf gegen den Schmerz besser geholfen als jedes Glas Wein oder jedes andere Ventil. Auf einmal hatte ich wieder ein Ziel. Ich stand morgens für etwas auf. Vor allem machte ich das, was mich am glücklichsten machte: Ich lief.

Ich habe mich entschieden, offen über den Verlust meines Kindes zu sprechen, weil ich spüre, wie viele Frauen sich dafür zu schämen scheinen. Auch ich hatte mich geschämt. Doch dafür gab es keinen Grund. Es war nicht unsere Schuld, es war der Wille der Natur. Vielleicht einer höheren Macht. Es hilft, wenn wir einsehen, dass wir manches nicht beeinflussen können. Mir half meine Ärztin sehr. Sie erklärte mir, dass mein Training und die Läufe nichts mit der Fehlgeburt zu tun gehabt hätten. Die Hormone der Schwangerschaft hatten zunächst sogar positiv auf meine Laufleistung gewirkt. Bevor ich von meiner Schwangerschaft erfahren hatte, hatte ich auf einigen Distanzen persönliche Bestzeiten gemessen.

Ich lernte, dass es für mich ein einfaches Mittel gegen Schmerz gibt: Ich mache einfach das, was mich glücklich macht, so oft wie möglich.

Mir half es auch, über meinen Schmerz zu reden. Ich teilte ihn mit den Menschen, die mich lieben. Ich spürte dabei etwas ganz Wichtiges:

Ich war die Einzige, die mir einen Vorwurf machte.

Über #BeatYesterday.org-Autorin Tanja Schönenborn


Tanja Schönenborn lebt und arbeitet in der Nähe von Köln. Mittlerweile zählt sie zu den ambitioniertesten Ultra-Läuferinnen in Deutschland.

Tanja Schönenborn trinkt während eines Wettkampfes
Laufen ist Tanjas Leben. Schon häufiger konnte sie auch dem Schmerz davonlaufen. © RacingThePlanet

Tanjas Story in dem Buch „ Wer die Wahl hat, liebt die Qual“ zu lesen. Erschienen Mitte Oktober erzählt es die Liebesgeschichte von Tanja und Rafael, ihren Läufen und wie der Sport half, einen schweren Verlust zu verarbeiten. Das Buch kann hier bestellt werden.

Buchcover des Buches Wer die Wahl hat, liebt die Qual von Tanja Schönenborn und Rafael Fuchsgruber
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