Das Autoradio unseres VW Golfs drückte gegen mein Becken. Meine Schwester, die eben noch neben mir saß, lag verkrümmt unter dem Lenkrad. Obwohl ich nicht begreifen konnte, was passiert war, wollte ich mich aus dem Wrack winden und meine Schwester befreien. Und ihre beiden Kinder.
Es war ein sonniger Tag in Italien zum Ende unseres Sommerurlaubs. Wir waren eine lange, schnurgerade Bundesstraße entlang gefahren, die sich kurz vor einer Brücke zu einer Kurve bog. Wir fuhren 90 km/h, die vorgeschriebene Geschwindigkeit. Plötzlich scherte ein Kleinwagen aus dem Gegenverkehr und kollidierte frontal mit unserem Fahrzeug. Unseren Wagen faltete es zusammen wie eine Ziehharmonika.
Normalerweise hätten wir tot sein müssen. Der Fahrer des Fiats starb auf der Stelle. Wir nicht. Die Kinder auf der Rückbank waren nur leicht verletzt. Ihre Mutter hatte es am schlimmsten erwischt. Aber auch sie überlebte. Ich hatte mir drei Wirbel verletzt, dazu kamen Schürfwunden. Es war ein Wunder. Alle Schutzengel dieser Welt mussten auf unserer Seite gewesen sein.
Ein Jahr für das erste Comeback
Eineinhalb Jahre brauchten meine Schwester und ich, um den Unfall zu verarbeiten. Wir merkten, dass wir es geschafft hatten, als wir das erste Mal in der dritten Person über das Geschehen sprechen konnten. Plötzlich war eine emotionale Distanz zum Unglück da. Wir konnten vorausblicken.
Mir hat beim Weitermachen der Sport geholfen. Damals, kurz vor dem Unfall und meinem Abitur, war ich ambitionierte Basketballerin. Ich hatte Talent, war eine der Besten in meinem Jahrgang. Ein Jahr brauchte ich nach dem Unfall, um wieder auf das Niveau von vor dem Crash zu kommen. Das klingt und war dramatisch. Aber ich bekam etwas zu tun, jeden Tag Ablenkung, mein Comeback war eine Aufgabe, die trübe Gedanken fernhielt.
Der Basketball half mir – mal wieder – aus der Krise. Schon als Kind hatte ich von diesem Sport sehr profitiert. Ich kam mit einer Gaumenspalte zur Welt. Das ist nichts Bedrohliches. Aber es beeinflusste meine Stimme. Ich spreche nasal. Kinder lachen manchmal über Kinder, die so klingen wie ich damals. Weil ich nicht wollte, dass sich andere über mich lustig machen, erzählte ich möglichst wenig und verbarg mich hinter meiner vermeintlichen Schüchternheit. Bis ich das erste Mal einen Basketball in den Händen hielt.
Mit dem Sport lernte ich mich auszudrücken. Ich dribbelte, warf Körbe, sprintete, ich spielte laut. Und ich verbesserte mich schnell. So holte ich mir das verloren gegangene Selbstvertrauen zurück. Auch wenn es pathetisch klingt: Der Sport gab mir meine Stimme zurück. Nach dem Abitur, ein Jahr nach Italien, nach dem Crash, belohnte mich der Basketball für mein Comeback. Ich bekam ein Angebot: München, Erste Liga, ein Studienplatz, eine Wohnung. Ein neues Leben in einer aufregenden Stadt.
Das Ende der Karriere
Sieben Jahre lief alles normal, abgesehen von den üblichen Wogen des Lebens. Ich spielte immer noch Basketball auf professionellem Niveau. Bis zu einem Nachmittag im Mai 2012. Es war eine normale Szene in einem vermeintlich normalen Spiel. Ich stand auf dem Court, verteidigte den Raum, sah, dass eine Kontrahentin gerade meine direkte Gegnerin anspielen wollte. Meine Chance. Es lag mir, das Spiel der anderen zu antizipieren. Ich lauerte auf Momente wie diese. Blitzschnell herausschnellen und sich den Ball schnappen.
Als ich diesmal nach dem Ball griff und sich mein Blick bereits zum gegnerischen Korb wandte, spürte ich einen unsagbaren Schmerz im Knie. Eine Gegenspielerin war mir mit voller Wucht hinten rein gesprungen. Noch in der Luft, so sagten es mir später die Ärzt*innen, musste es meine Kniescheibe erwischt haben. Ich stürzte auf das lädierte Gelenk.
Es fühlte sich an, als ob jemand mein Bein ausreißen wollte. Eine Frau, mutmaßlich eine Yoga-Lehrerin, eilte von der Tribüne auf das Feld und kümmerte sich um mich. Sie sagte, ich solle mich beruhigen und ihr nachatmen. Ich tat es. Ein fremder Mann machte mir Mut. Er sagte: „Je schlimmer eine Knieverletzung schmerzt, desto harmloser ist sie.” Für einen kurzen Moment dachte ich tatsächlich, dass ich in drei Wochen wieder spielen könnte.
Ich ging. Langsam. Aber ich ging.
Im Krankenhaus schüttelten die Ärzt*innen mit dem Kopf. Sie wollten nicht glauben, dass mein dickes Elefantenbein das Resultat eines Sportunfalls gewesen sein soll. Der Anblick der Röntgenbilder erinnerte sie an die Folgen eines Motorradunfalls oder eines ähnlich brutalen Vorgangs. Vom vorderen und hinteren Kreuzband war nicht mehr viel übrig. Vom Meniskus auch nicht. Die Kniescheibe war lädiert, nicht mehr da, wo sie hingehört. Ausgerenkt. Allein mein Außenband war intakt. So etwas hatten sie im Krankenhaus selten gesehen.
In diesem dunkelsten Moment meines Sportlerinnenlebens begann bereits der Weg zurück. Ich wurde von grandiosen Ärzt*innen und Physiotherapeut*innen bestens versorgt, medizinisch und mental.
Als Patientin mag man sich nach einem solchen Unfall ohnmächtig fühlen, aufgeschmissen und mit verbundenen Händen zum Zuschauen verdammt. Mir gaben die Ärzt*innen früh zu verstehen, dass auch ich meinen Heilungsverlauf beeinflussen kann. Indem ich genau in meinen Körper hineinhorche und ihnen präzise sage, wo und wie etwas schmerzt. Ich tat mein Bestes, und meine Ärzt*innen reagierten auf alles, was ich ihnen mitteilte.
Die Mediziner*innen und die Physios hielten mir immer wieder Strohhalme hin. Sie machten Vorschläge, was wir wagen oder ausprobieren können. Ich nahm jeden Rat an. Es war eine Mannschaftsleistung. Ein Dreivierteljahr lebte ich in der Physio-Praxis, täglich bis zu acht Stunden Training und Behandlung. Bis mir mit meiner Forrest-Gump-Beinschiene die ersten Schritte gelangen.
Ich ging. Langsam. Aber ich ging.
Zweite Chancen riskiere ich nicht
Eines Tages, ich konnte mich wieder annähernd normal bewegen, saß ich bei meinem Arzt, einem Sportmediziner. Er begutachtete meine Fortschritte. Musterte mich, sagte dann, dass ich konstitutionell perfekt für den Triathlon geeignet wäre, dass ich die Muskulatur hätte und den Körperbau.
Der Triathlonsport wurde zu meinem neuen Rettungsring. Basketball hätte ich zwar theoretisch wieder spielen können, nur nicht mehr so gut. Doch alle Sportarten, die abrupte Richtungsänderungen oder mit Gegnerkontakt ablaufen – Sportarten wie Basketball – sind für mich zu gefährlich. Eine erneute Verletzung würde das geschundene Gelenk nicht verkraften. Über Monate und Jahre hatten meine Ärzt*innen und ich mir eine zweite Chance erarbeitet. Diese zu riskieren, war mir sogar der Basketball nicht wert.
Der Comeback-Soundtrack von Stefanie Bihlmayer
BeatYesterday-Heldin Stefanie Bihlmayer musste zwei schwere Schicksalsschläge überstehen. Mit Ehrgeiz und Sport gelangen ihr zwei bewundernswerte Comebacks. Welche Musik sie dabei motivierte – ihre #BeatYesterday-Playlist zum Nachhören.
Der Körper verlangt jeden Tag Arbeit
Bald neun Jahre liegt der Sportunfall nun zurück. Auch der Autounfall verbleicht im Gedächtnis mit jedem Jahr etwas mehr. Der Alltag bedeckt den Schmerz. Und wenn ich an ihn denke, bekomme ich keine Angst. Aus den Erinnerungen sind Mahnungen geworden. Sie sagen mir, wie unglaublich toll und einmalig unser Leben ist. Ich schätze zweite Chancen.
Auch der Triathlon zählt dazu. Um den Dreikampf auf hohem Niveau absolvieren zu können, muss ich nicht nur das Schwimmen, Radfahren und Laufen trainieren. Fast täglich fordere ich meine Bein- und Rumpfmuskulatur in Extraschichten. Mit dem Aufbau der stützenden und schützenden Muskulatur wirke ich den Spätfolgen der Unfälle entgegen, den Schmerzen und der gelegentlichen Instabilität.
Durch meine Lauftechnik, die das Knie beim Laufen so wenig wie möglich beansprucht, kann ich fast beschwerdefrei rennen. Manchmal verfolgt mich mein Vater während meiner Laufrunden mit dem Rad, damit er mir Hinweise geben kann, wenn ich bei der Technik schlampe. Noch immer konsultiere ich die Ärzt*innen von damals, wenn ich Fragen habe. Noch immer bin ich Stammgast in der Physiopraxis. Mit meiner Verletzungshistorie sportlich aktiv zu bleiben, große Ziele zu haben, bedeutet Arbeit und das jeden Tag.
Ich brauche viel Geduld, Willen und auch Zeit. Besonders das Letztere ist knapp bemessen. Ich liebe meinen Vollzeitjob in der Medienbranche, der Sport muss davor und danach Platz finden. Manchmal quetsche ich ihn dazwischen. Aber das ist das einzig Schlimme beim Training. Alles andere hatte ich viel zu lange vermisst und genieße es zu sehr, um es als lästig zu empfinden.
Dass es abwärts geht, ist keine Option
Der Sport hat mir immer geholfen. Wenn ich neuen Mut brauchte oder Ablenkung. Er hat mich gelehrt, wie ich Schmerzen aushalten kann. Die Therapie, die Rückkehr in ein sportliches Leben, wie ich es führen darf, war nicht der leichteste Weg. Ich hätte mir manches ersparen können.
Nicht nur bei meinen Unglücksfällen, sondern auch beim Sport war ich stets eine Frau, die das Extreme anzog. Ich bin noch nie einen Halbmarathon gelaufen, aber einige Marathons. Ich habe mich gerne gequält, habe körperliche Grenzen ausgelotet und sie wieder und wieder verschoben. Jetzt trainiere ich für meinen ersten Ironman in Klagenfurt, ein normaler Triathlon verlor schnell seinen Reiz. Klingt verrückt. Aber Arme und Beine sind dafür da, um sie zu bewegen.
Im September 2021 soll es soweit sein. Die Veranstaltung in Klagenfurt ist optimal für mich geeignet, denn die Laufstrecke verläuft ebenerdig. Abschüssige Passagen sind nicht vorgesehen. Ich kann mit meinem Knie fast alles machen, nur bergab laufen ist schwierig.
Mein Knie und ich sehen es also ähnlich: Dass es im Leben abwärts geht, ist keine Option.
Drücke ihr alle Daumen!!! Triathlon rockt und ich glaube fest an ihr Finish in Klagenfurt 🙂 NEVER GIVE UP!
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Drücke ihr alle Daumen!!! Triathlon rockt und ich glaube fest an ihr Finish in Klagenfurt 🙂 NEVER GIVE UP!