Die meisten denken, dass es wahnsinnig schmerzen muss, wenn man beim Skifliegen ungebremst auf dem gefrorenen Hang aufschlägt. Dass die Schmerzen unerträglich sein müssen, wenn einem die Knochen brechen.
Mir tat nichts weh. Nicht in diesem Moment.
Ich lag regungslos auf dem Boden, war aber wach im Kopf, nicht bewusstlos. Ich wollte aufstehen und sofort wieder zum Anlauf der Schanze. Das ist eine Regel, die wir schon als junge Skispringer lernen. Wenn wir stürzen, sollten wir so bald wie möglich wieder einen Sprung absolvieren. Sonst beißt sich die Angst in den Gedanken fest und lässt einen kaum wieder los.
Es rührte sich nichts, obwohl ich wollte. Ich blinzelte, schaute auf meine Beine. Ich spürte sie noch ein bisschen. Sie waren irgendwie noch da. Ich konnte sie bloß nicht mehr steuern. Kein Ruck. Kein Zittern. Keine Regung. Während sich die Schneeflocken zu mir auf den Boden legten, begann ich zu verstehen: Entweder ist das ein riesiger Schock oder eine Querschnittslähmung.
Ich ahnte, dass es das Genick oder die Wirbelsäule sein muss. Ist man nicht tot, wenn das Genick bricht? Das hatte ich immer geglaubt. Ich lebte und atmete die kühle Luft. Innerlich sagte ich mir: So, das wird jetzt wohl die längste Reise deines Lebens. Und die härteste.

Muss ich diesen Sprung wirklich abbrechen?
An den Sprung kann ich mich noch gut erinnern, auch wenn er fast vier Jahre zurückliegt. Es war mein zweiter Versuch des Tages. Ich sprang als Vorspringer beim Skifliegen auf dem Kulm, der einzigen österreichischen Skiflugschanze in der Steiermark. Beim ersten Sprung landete ich genau bei der 200-Meter-Marke. Ich wollte aber mehr. Als Vorspringer wollte ich mich beweisen, wollte den Trainern zeigen, dass ich noch da bin. Ich erwischte den Absprung am Schanzentisch sensationell. Die Luft begann mich zu tragen. Das Luftpolster baute sich unter mir auf. Es fühlte sich richtig gut an. Wie immer. Skispringer blicken zu Beginn des Sprungs dorthin, wo sie am Ende ungefähr landen. Ich schaute weit über die 220-Meter-Marke hinweg. Was für ein Gefühl!
Plötzlich merkte ich, dass sich mein linker Fuß im Schuh bewegte. Ich erkannte, dass er womöglich komplett aus dem Schuh rutschen könnte. Eine Landung war so nicht möglich. Ich dachte zunächst: Muss ich diesen guten, weiten Sprung wirklich abbrechen?
Manche glauben, dass in diesen Schrecksekunden sehr viel mehr in einem Menschen vorgeht. Dass er eine Lösung oder einen Fluchtweg aus der verzwickten Situation sucht. Diese Zeit zum Denken bleibt bei 125 km/h in der Luft gar nicht. Als Sportler muss ich mich auf Instinkte verlassen, auf die Automatismen, die ich meinem Körper bei über 10.000 Sprüngen antrainiert habe. Eine Situation wie diese, hatte ich zuvor noch nie erlebt oder trainiert.
Eher unbewusst traf ich die Entscheidung, mich so drehen zu lassen, dass ich mit dem Rücken aufpralle. Gesicht, Bauch und die Organe konnte ich so schützen. Damit der Druck des Aufpralls sich auf möglichst viele Körperbereiche verteilte, spreizte ich intuitiv die Arme weg. Und dann wurde es weiß vor Augen. Der letzte Augenblick verharrte. Die Zeit schlich dahin. Diese Wand aus Schnee, auf die ich zu raste, verschwand aber nicht. Sie blieb trotzig vor mir stehen.
Ein bisschen Kontrolle
Eigentlich sollte mich ein Hubschrauber ins Spital bringen. Nach wenigen Minuten musste er aber wieder landen, denn der dichte Schneefall machte ein Weiterfliegen unmöglich. Ein Krankenwagen nahm mich auf.
Hier traf ich die erste vollends bewusste Entscheidung seit dem Abspringen am Schanzentisch. Die Notärztin hielt mir ihr Handy hin und fragte, ob ich jemanden informieren möchte. Ich musste überlegen, wen ich anrufen lasse, und diktierte die Nummer meiner damaligen Freundin. Sie sollte allen Bescheid geben. Ich erzählte ihr vom Sturz und erklärte, wo ich war, und dass ich meine Haxen nicht bewegen konnte. Dann legte die Notärztin auf. Ich war zumindest ein bisschen der Herr meiner Lage. Ich hatte ein Stück Kontrolle.

Kleine Erfolge sind manchmal die wertvollsten
42 Tage lag ich im Krankenhaus. Fünf Monate blieb ich danach in der Reha. In dieser Zeit habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, dass die wichtigsten Siege nicht die sportlichen sind. Oder, dass besonders die kleinen und unscheinbaren Erfolge die wertvollsten sind.
Eigentlich sollte ich zweimal in den OP. Die Operateure stabilisierten meine gebrochenen Wirbel mit Metallplatten. Nach der ersten OP sagte der Arzt, dass die zweite hinfällig sei. Meine ausgeprägte Muskulatur würde ausreichen. Der erste Triumph.
Ein anderer Sieg war eine einfache Drehung im Bett. Ich lag die ganze Zeit gelähmt auf dem Rücken, Tag und Nacht. Und das als Bauchschläfer. Wenn ich etwas brauchte, musste jemand aus meiner Familie oder eine Schwester mir alles anreichen. Ich wollte aber selbstständig sein. Nur ein bisschen. An meinem Nachtkasterl erspähte ich einen Griff. Ich wollte mich zur Seite drehen. Ich packte mit beiden Händen zu und schaffte es mit Mühe tatsächlich, mich auf die Seite zu legen. Das war kein kleiner Sieg. Das war ein großer Titel.
In den Wochen danach hangelte ich mich von Erfolgserlebnis zu Erfolgserlebnis. Kleine Etappen, Schritt für Schritt. Bemerkenswert war die Anstrengung dieser Tage. Als Spitzensportler hatte ich meinen Körper immer auf Hochleistung geeicht. Die Trainingslager waren hart. Die Konkurrenz groß. Weiter flog nur der, der sich im Training quälte.
Der Körper baut sich um
Die ersten Reha-Übungen verlangten genauso viel Hingabe wie die früheren Trainings. Sie brauchten meine gesamte Kraft. Das tat mir sogar gut. Ich musste mich wie früher aufraffen und alles geben. Es waren eben nur andere Übungen. Ich befand mich nicht mehr in einem Wettkampf gegen andere, sondern in einem Wettkampf gegen mich selbst. Das ist heute immer noch so.
Wenn ein Sportler auf den Rollstuhl angewiesen ist, verändert sich einiges. Der Stoffwechsel. Die Sensorik. Die Muskulatur. Als Skispringer brauchte ich für den Absprung und die Landungen starke Beine. Das Rollstuhlfahren formte nun meine Arme. Sie wurden dicker und stärker. Der Körper baute sich um.
Ich bin nicht auf den Kopf gefallen
Neue Ziele waren das Wichtigste in diesem langwierigen, auch mentalen Genesungsprozess. Sie ließen Selbstmitleid oder andere wehmütige Gedanken erst gar nicht zu. Ich blickte nach vorn. Sagte mir: Ich bin auf den Rücken gefallen, nicht auf den Kopf. Ich probierte Neues aus. Beim Rollstuhlrugby, das ich nach der Reha begann, bekam ich Hilfe von Menschen, die meine Lage seit Jahren kannten. Sie hatten diese Erfahrung, die ich machte, schon überstanden. Ich begriff, dass ich gar nicht dabei war, mein altes Leben zurückzugewinnen, sondern mir schon ein Neues aufbaute. Nur darum ging. Es gab keine Alternative.
Ich begann ein Sportrechtsstudium in Krems an der Donau. Ich will es in der Mindeststudienzeit schaffen. Parallel arbeite ich in meinem Beruf als Vermögensberater. Ich habe klare Vorstellungen. Am meisten strebe ich immer noch nach Selbstständigkeit. Das Gehen ist einer der Schlüssel zu diesem Glück.

Das große Ziel: Normalität
Die ersten freien Schritte ohne Krücken gelingen mir mittlerweile. Das kann ich, verglichen mit meinen ersten Zielen nach dem Unfall, als Sensation bezeichnen.
Jeder dieser Schritte verlangt große Mühe. Ich muss Muskeln aufwärmen und dehnen, das dauert manchmal Stunden. Für ein paar Meter bereite ich mich wie auf einen Wettkampf vor. Eine Person muss mich beaufsichtigen, weil ich mich noch unsicher bewege und jederzeit umfallen könnte. Irgendwann will ich komplett unabhängig werden, sofern es die Anatomie zulässt.
Und dann ist da noch ein Vorhaben, das nicht nur mit mir zutun hat. Ich möchte, dass mein Fall dafür sorgt, dass österreichische Sportler in Zukunft besser abgesichert sind, wenn es sie wie mich damals erwischen sollte. Ich stritt über drei Jahre mit dem Österreichischen Skiverband um die Anerkennung des Sturzes als Arbeitsunfall. Erst vor dem Höchstgericht wurde mir recht gegeben. Wenn ich dafür sorgen kann, dass es in Österreich bald gesetzliche Grundlagen gibt, die Sportler in Notsituationen besser absichern, wäre das für mich der größte Erfolg. Dann wäre der Sturz nicht umsonst gewesen. Er hätte im Gegenteil etwas Gutes bewirkt. Dieses Vorhaben ist sozusagen meine Vierschanzentournee.
Ich würde wieder springen
Wenn ich manchmal an einen traurigen Gedanken festhänge, dann hilft mir oft die Erinnerung an die Unterstützung, die ich durch mein Umfeld und die breite Öffentlichkeit bekomme. Der Zuspruch. Die guten Wünsche. Der Applaus. Rückhalt hilft, um Dinge aufzuarbeiten.
Dieses Jahr werde ich die Tournee besuchen und später auch am Kulm sein. Zum zweiten Mal seit dem Sturz. Wieder auf die weiße Wand blicken, die einfach vor mir stehen blieb. Sie ist immer noch da.
Manche denken, dass ich eine Wut auf den Skisprungsport hätte. Das ich zornig auf ihn bin, weil er mir viel genommen hat. Das Laufen. Das Gehen. Die Selbstständigkeit. Das stimmt nicht. Da ist kein Zorn.
Ich würde jederzeit wieder springen. Auch von dieser Schanze. Auf dem Luftkissen schweben, ins Tal fliegen, mich komplett auf mein Gefühl verlassen. Das Skispringen mag mir etwas genommen haben. Aber es hat mir so unendlich viel mehr geschenkt: ein ganzes Leben.
protokolliert von Hannes Hillbrecht
Eine Beeindruckende Geschichte! Alles Gute
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