Der Name Guinness ist bekannt für träge machendes Bier und beeindruckende bis belanglose Weltrekorde. Und er steht für einen der größten Fair-Play-Momente der Sportgeschichte.
Ein Rückblick: Bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles fochte die Amerikanerin Judy Guinness gegen die Österreicherin Ellen Preis um Gold. Ein Duell auf Säbels Schneide. Dann unterbrach Guinness plötzlich den Kampf und informierte das Kampfgericht über zwei Treffer der Österreicherin, die die Unparteiischen schlicht übersehen hatten. Ein schwerwiegender Fauxpas. Schließlich gab es noch keine elektronische Messung der Touchierungen. Durch die ehrliche Geste von Guinness gewann Gegnerin Ellen Preis die Goldmedaille.
Auf den eigenen Lebenstraum verzichten und die Kontrahentin siegen lassen – dazu gehören Schneid, Courage, Selbstbewusstsein. Olympische Spiele mögen manch berechtigte Kritik ernten. Sie sind aber für Millionen Menschen das wichtigste Sportereignis der Welt. Kinder schauen zu, sind begeistert und gehen vielleicht zum Judo oder Ringen, und nicht wie alle anderen zum Fußball.
Andererseits vermitteln die Spiele allen Sportler*innen wichtige Werte. Auch in diesem Jahr gab es zahlreiche inspirierende #BeatYesterday-Momente bei den Spielen in Tokio.
Jonathan Hilbert: Nutze deine Chance, solange du kannst
Schon auf dem Sportgymnasium zerschellte Jonathan Hilberts Traum. Der Thüringer wollte Langstreckenläufer werden. Aber er war zu langsam. Also ging er zum olympischen Gehen. Einer unterschätzten und zugleich belächelten Sportart. „Dabei gehen wir schneller als viele andere überhaupt laufen können“, sagt Jonathan im #BeatYesterday-Interview.
Doch das Gespött war nicht mal Jonathans größtes Problem. Seine Paradedisziplin, die 50 Kilometer Langdistanz, hatte schon vor einigen Jahren ein Ablaufdatum auferlegt bekommen. Auf der japanischen Insel Hokkaido fand im Rahmen von Tokio 2021 das letzte olympische Rennen statt. „Es geht nicht nur um mich, sondern auch um die Zukunft der Sportart in Deutschland. Dafür will ich mein Bestes gehen”, erklärte Jonathan vor den Spielen.
Und wie er in Japan abging. Hilbert, ein Außenseiter, um nicht zu sagen ein Unsichtbarer, stürmte im japanischen Sapporo sensationell zur Silbermedaille. Jonathan nutzte seine vielleicht letzte Chance, weil er immer an sie und sich selbst glaubte.
Simone Biles: Das Wohlgefühl geht immer vor
Es gibt einen schönen Aphorismus, einen klugen Spruch, gedruckt auf Vinyl, der als Poster in vielen Großstadtbüros hängt. „Nichts erfordert mehr Charakter und Mut als ein ehrliches Nein.“
Das stimmt. Neinsagen will gelernt sein. Simone Biles hat in Tokio allen gezeigt, wie stark das sein kann.
Die Weltklasse-Turnerin hatte unmittelbar vor zwei Wettkämpfen auf ihre Teilnahme verzichtet. Die 24-Jährige fühlte sich mental nicht in der Lage zu Hochleistungssport, psychische Probleme plagen sie schon eine Weile. Millionen kennen das Gefühl, wenn einem Mut und Selbstbewusstsein aus den Händen gleiten. Im Sport sind mentale Erkrankungen trotzdem tabuisiert. Bis Biles sich offen erklärte. Und damit auch allen anderen Sportler*innen neuen Mut spendete.
Egal, wie lang die Vorbereitung war, wie groß die Ziele, wie teuer vielleicht die Anreise zum Event: Sträuben sich Körper oder Geist, ist nichts mutiger, als auf eine Chance zu verzichten.
Andrea Salvisberg: Die eigene Leistung richtig einordnen
Erst ein Schluchzen. Dann die Tränen. Danach der unbeholfene Versuch, den Kopf unter den Armen zu vergraben. Andrea Salvisberg entglitten seine Emotionen nach dem Teamwettbewerb der Triathlet*innen. Eine starke Szene.
Der Schweizer hatte zuvor als zweiter Staffelläufer ein dramatisches Rennen erlebt. Beim Schwimmen konnte er auf die Medaillen-Plätze aufholen, sich beinahe an die Konkurrenz heransaugen. Doch eben nur fast. Um Haaresbreite verpasste er den Anschluss an die nächste Gruppe. Während sich dieses Grüppchen beim Radfahren absprach, die Athleten immer wieder an der Spitze rochierten und abwechselnd im Windschatten verschnauften, hetzte Andrea Salvisberg ihnen allen alleine hinterher. Eine ermüdende Angelegenheit: „Ich habe unfassbar viel reingelegt. Ich kam auch etwas dichter, aber eben nicht dicht genug. Der Japaner, der mich begleitete, hing nur am Hinterrad. Ich war irgendwann zu platt, konnte nicht mal mehr schimpfen“, sagt Andrea.
Im Ziel fühlte er sich schuldig. Hatte er die Medaillenchance für sein Team vergeben? Hätte er etwas besser machen können? Andrea Salvisberg antwortet: „Als ich kurz nach meinem Ausbruch auf die Zeiten geschaut habe, war ich fast wieder glücklich. Es war ein super Rennen. Ich hatte alles auf die Strecke gebracht, die siebtbeste Zeit abgeliefert. Manchmal ist es eben wichtig, auf die eigene Leistung zu schauen. Und nicht nur auf die Konkurrenz.“
Aus Japan brachte Andrea Salvisberg zwar keine Medaille mit, dafür aber ein außergewöhnliches Bild. Im Einzelwettbewerb musste er artistisch über sein Lenkrad absteigen. Wäre er nicht rechtzeitig vor der Wechselzone abgesprungen, hätte er eine empfindliche Strafzeit kassiert. Dieses Bild ging um die Welt – und bebildert diesen Artikel.
Jolanda Neff: Immer so schnell wie möglich
Die Straßen quollen vor lauter Menschen über. Rötelis, die bekannten Kirschliköre, und Armagnacs befeuchteten siegestrunkene Kehlen. Die Schweizer*innen stromerten selig durch die nächtlichen Straßen. Was ein Fußballspiel alles auslösen kann.
So bitter wie Fernet Branca war die Szenerie dagegen einen Monat später. Die Straßen leer. Keine Partymeile. Stattdessen business as usual. Dabei hatten die Schweizer Mountainbiker*innen Historisches geschafft. Erster, zweiter und dritter Platz. Ein rotes Podium mit Schweizerkreuz. Und ganz oben: Jolanda Neff.
Die Siegerin, 28 Jahre alt, krönte damit ungeachtet des Partyvolks ihre junge Karriere. Ihr Erfolgsrezept verriet sie einst auf #BeatYesterday.org: „Vor jedem Abhang treffe ich meine eigene Wahl: volle Power oder lieber Achtsamkeit und Vorsicht? Und am liebsten fahre ich einfach so schnell ich kann.“
So simpel. So gut. So siegessicher. Schon damals.
Nino Schurter: Legenden verlieren groß
Gewinnen kann jede*r. Verlieren nicht. Jedes Jahr zu erleben auf jedem Provinz-Sportfest zwischen Schleswig-Holstein und Burgenland. Der Ehrgeiz kann tiefe Abgründe graben.
Nicht bei Nino Schurter. In Tokio war der Schweizer ein Champion im Nicht-Gewinnen. Der große Mann des Mountainbikes, Abonnement-Weltmeister und Olympiasieger, wurde nur Vierter. Die bitterste Platzierung, die es bei Olympia gibt. Nicht mal der zweite Platz bei Vier gewinnt soll so schmerzhaft sein.
Für Nino war es dazu eine ungewohnte Situation. Dass er die großen Rennen gewinnt, schien lange ähnlich gesetzt wie ein Newtonsches Naturgesetz. In Japan waren diesmal drei schneller. Und Nino? Der Graubündner gratulierte den Gewinnern auf dem Podest, applaudierte dazu Kollege und Silbermedaillen-Sieger Mathias Flückiger herzlich über Social Media.
Manche spekulieren jetzt, wie es weitergeht. Nino Schurter ist 35. Einfacher wirds im Alter nicht mehr. Um seine Motivation sollte sich trotzdem niemand sorgen. Denn Nino formuliert auf #BeatYesterday.org sein starkes #BeatYesterday-Mindset: „Nie stehen bleiben, jeden Tag besser werden. Und genau dafür hart trainieren. So definiere ich meine Karriere. Ich will mit jedem Tag ein besserer Mountainbiker werden. Nach Niederlagen ist mir das besonders wichtig.“
PS: Keinen Monat nach der Enttäuschung von Tokio wurde Nino Schurter im italienischen Val di Sole erneut Mountainbike-Weltmeister. #BeatYesterday.
Carissa Moore: Mit Swag zu Hold
Sport bedeutet Schweiß. Sport verlangt Selbstüberwindung. Sport tut verdammt weh. Bei Olympia besonders. Olympionik*innen kugelten sich beim Karate den Ellenbogen aus. Kenterten mit dem Kanu im Slalom-Parcours. Oder ächzten beim Gewichtheben. Dagegen dieser Kontrast aus den USA: die freche Carissa Moore.
Die Hawaiianerin holte das erste Surferinnen-Gold der Olympia-Geschichte. Nicht das Meer spielte mit ihr, sondern andersrum: Der Ozean gehörte ihr. Sie schwang sich über die Wellenkämme, tanzte auf den Wogen, ließ die Hüften kreisen. Wasser ist ihr Element. Seit ihrem vierten Lebensjahr surft Carissa. Meistens auf ihrem Hinterhof in Honolulu.
Carissas Kür war ein Fingerzeig für alle, die das Surfen als Sport anzweifeln und diskreditieren möchten. Selbst Unkundige wurden von der Eleganz unterm Regenbogen (der während des Wettbewerbs am Horizont schimmerte) mit Glück überschwemmt. So leicht kann schwer beeindruckender Spitzensport daherkommen. Auch Swag ist eine sportliche Tugend.
Richard Ringer und Peter Herzog: Ankommen ist das neue Gold
In Sapporo schien die Haut der Marathonläufer zu weinen. Schon nach wenigen Metern waren Schläfen und Arme mit Schweiß benetzt. Über 30 Grad im Schatten, drückende Luft. Und das auf der vermeintlichen Winterinsel Hokkaido.
Dorthin hatte das Olympische Komitee die ausdauernden Laufwettbewerbe verlegt. Am Ende war es im hohen Norden ähnlich heiß wie in Tokio. Über ein Viertel der Teilnehmer kam beim Männerwettbewerb aufgrund der schwierigen Bedingungen nicht ins Ziel. Das Klima zwang sie in die Knie.
Mit Richard Ringer (26.) und Peter Herzog (61.) quälten sich jedoch zwei deutschsprachige Athleten samt ihrer Garmin über die volle Distanz. Dafür gab es keine Medaille, aber ein Gefühl, das für fast alle Marathonis am wichtigsten ist: die Freude des Ankommens. Herzog, der sich klitternass und ausgemergelt ins Ziel schleppte, sagte danach: „Das war mein längster Leidensweg, den ich je gelaufen bin. Ich bin zufrieden.“
Mutaz Essa Barshim und Gianmarco Tamber: Gemeinsam gewinnen ist am schönsten
Es kann nur eine:n geben. So läuft es schon früh im Leben. Erst bei der Auswahl des Regeninstrument-Spielers während des gymnasialen Musikunterrichts. Dann bei der Beförderung im Job. Oder eben beim Halbmarathonlauf in der Heimatstadt. Ernüchternd.
Der Katarer Mutaz Essa Barshim und der Italiener Gianmarco Tamber brachen in Tokio mit dem Narrativ des alleinigen Gewinners. Sie gewannen einfach zusammen Gold. Wie war das möglich?
Die Kontrahenten sprangen im selben Takt durch den Wettkampf. Bis zu der Höhe von 2,37 Metern fiel kein einziges Mal die Stange von der Halterung. Ein Remis. Nur noch die beiden waren im Wettkampf. Ein Gespräch. Und sogleich zwei zunächst grienende, dann lachende Gesichter. Der Titel wurde freundschaftlich geteilt. Beide traten nach Absprache mit dem Schiedsgericht einfach nicht mehr an und zogen stattdessen siegestaumelnd durchs Stadion. Gemeinsam gewinnen ist eben deutlich weniger einsam.
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