Wer ein Schwarz-Weiß-Foto von Terry Sawchuk sieht, wird an einen Horrorfilm denken. Narben übersäen das Gesicht des Mannes. Die Haut wirkt aufgeplatzt wie die Schale eines Apfels.
Sawchuck war ein Eishockeytorhüter, ein legendärer, und das nicht nur wegen des ikonischen Fotos. Vor allem spielte Sawchuck in einer Zeit, als es noch keine Eishockeymasken für Torhüter gab. Jede Narbe auf seinem Gesicht erzählt die Geschichte eines Pucks, einer Hartgummischeibe, die den Kanadier am Kopf traf. Und die Haut zum Aufplatzen brachte.
Sebastian Albrecht hat dieses Problem nicht, ein bunt lackierter Torwarthelm schützt sein Gesicht. Albrecht, 34, ist Eishockeytorhüter, sozusagen ein weit entfernter Erbe Sawchucks, und ein sehr guter Schlussmann in der dritten deutschen Profiliga. Für die Rostock Piranhas hält er mehr als 90 Prozent der auf ihn abgegebenen Schüsse.
Borschtel, wie Mitspieler Albrecht nennen, zählt zu den besten Goalies der Liga. Doch an diesem Sonntagabend schlüpft er im Ostderby gegen Leipzig nicht nur in die Rolle eines Top-Torwarts. Er ist auch Versuchsobjekt in einem Experiment. Unter seinem Brustpanzer trägt Borschtel den HRM-Pro Plus von Garmin, einen leistungsstarken Brustgurt. Hinter seiner Fanghand hat er sich zudem seinen Forerunner 165 umgeschnallt, seine Smartwatch. Beide Geräte unterstützen ihn in seinem Alltag als Eishockeyprofi.
Erstmals, so der Plan, wird Garmin die sensibelsten Vitaldaten eines Eishockeytorwarts messen und danach schablonenhaft über den Spielverlauf legen. Wie schlägt das Herz eines Eishockeytorhüters, während er im Schusshagel steht? Sebastian Albrecht sagt: „Ich bin sehr gespannt. Vor allem darauf, wie sich meine Daten aus dem Spiel von denen im Training unterscheiden. Denn das, was ein Spiel ausmacht, können wir unter der Woche kaum simulieren. Das Adrenalin kickt nur im Wettbewerb richtig rein.“
Über das Experiment
Eishockey wird normalerweise in drei Dritteln gespielt. 3 x 20 Minuten Netto-Spielzeit, dazwischen 18 Minuten Pause. Nettospielzeit heißt: Ist der Puck nicht bespielbar oder ahnden die Schiedsrichter ein Foul, bleibt die Zeit stehen. Die meisten Eishockey-Partien dauern deshalb länger als zwei Stunden. Für diesen Beitrag unterteilen wir das Spiel in fünf Abschnitte.
1. Vor dem Spiel
Der anstrengende Akt beginnt für Sebastian Albrecht bereits weit vor dem Anbully, dem Spielbeginn. In der Kabine muss sich der Torwart umziehen, das ist beim Eishockey schon für Feldspieler aufwendig genug. Für Torhüter ist die Sache aber noch etwas komplexer. Bis zu 20 Kilogramm wiegt seine Ausrüstung. Spezielle Beinschoner, der Brustpanzer, diverse andere Schutzutensilien – es ist ein Ritterkostüm aus Polyester, in das Albrecht schlüpft.
Wie wichtig die Schutzkleidung des Torhüters ist, erlebte Teamkollege Jan Tramm in der vergangenen Saison. Weit weniger geschützt als der Torwart blockte der Verteidiger einen Schuss so ungünstig, dass der Puck von hinten den Rippenbogen traf. Tramm erbrach Blut auf dem Eis, musste in die Notaufnahme. Diagnose: Rippenbruch. Eine Woche später stieg der Geschundene wieder ins Training ein.
Vor solchen Unglücken ist Albrecht durch seine Ausrüstung geschützt. Doch schon das Anziehen seiner Rüstung treibt seinen Puls in die Höhe. 120 Mal in der Minute schlägt sein Herz, als er die Kabine verlässt. Es geht zum Warm-up, zum Einlaufen.
2. Das erste Drittel
Plötzlich wird es in der Halle, die in rotes Licht getaucht ist, aufgeregt trubelig. Der Zamboni parkt piepend hinter der Bande ein. Die Stimme des Hallensprechers röhrt durch die Halle. Weit mehr als 1.000 Fans sind gekommen, ihre Leidenschaft erwacht langsam zu einem aufbrausenden Leben. Albrecht ist der Erste, den sie beklatschen werden.
Als Stammkeeper darf er als erstes aufs Eis. Albrechts Puls merkt man die Aufregung kaum an, er liegt noch im niedrigen dreistelligen Bereich. Entspannt kurvt er vor die Haupttribüne, nachdem die Fans seinen Namen verbal aufs Eis geschleudert haben. Der emotionale Moment für viele Fans ist für Albrecht vorerst der letzte entspannte Augenblick des Abends.
Bereits im ersten Drittel wird es packend. Leipzig, ein harter Gegner, leicht favorisiert, kommt mit viel Kraft aufs Eis. Einer der Gäste ist so groß, er könnte bei Shrek den tollkühnen Helden spielen. Doch Albrecht hält sein Tor gegen ihn sauber. Seine bissigen Teamkollegen sind hingegen zielsicherer. Nach nicht mal zehn Minuten steht es 2:0 für Rostock. Albrecht jubelt, der Puls liegt zwischendurch bei 161 Schlägen pro Minute.
Wer Albrechts Pulskurve sieht, kann daran ablesen, wohin sich das Spiel gerade bewegt. Eishockey ist extrem schnell, innerhalb von sechs, sieben Sekunden kann eine eigene Großchance in eine Torgelegenheit des Gegners umschlagen. Spielt sich dieser in die Gefahrenzone, macht er Druck, pumpt Albrechts Herz schneller, über 170 Mal in der Minute. So auch in dem Moment, als der Puck obszön knapp an ihm vorbeirollt und kurz vor der Torlinie liegen bleibt. Haben seine Mitspieler hingegen die Scheibe, entspannt er sich halbwegs. Albrechts Herz ist wie ein Jojo, das im Takt des Spielverlaufs hüpft.
Kurz vor dem Ende des ersten Drittels setzt die Pumpe der Fans dagegen fast zweimal aus. Einmal schießt Leipzig ein Tor, was wenig später via Videobeweis aberkannt wird. Danach, Sekunden vor der Pause, treffen die Gäste doch noch. Im Überzahlspiel. Für Albrecht die bittere Pille nach mehreren Minuten Dauerdruck.
3. Das Mitteldrittel
18 Minuten Pause hat Sebastian Albrecht, um sich vom Dauerstress zu erholen, und das ist für ihn besonders wichtig. Er zieht sein Trikot aus, sein Funktionshirt dampft. Kein Wunder, schmorte der Torhüterkörper das komplette erste Drittel in seinem eigenen Saft. 2,5 Liter Schweiß wird Albrecht während des gesamten Spiels verlieren, wie die Datenanalyse seines Forerunners später ausspuckt. Ein Eishockeytorhüter muss sich zwischendurch nicht etwa aufwärmen, er sollte sich vor allem abkühlen können, sagen Goalies. Mehrmals pro Drittel spritzt sich Albrecht kaltes Wasser ins Gesicht. Kühl bleiben auf dem Eis. Auch eine mentale Aufgabe.
Wie das Streckenprofil einer Bergetappe bei der Tour de France sieht mittlerweile sein Puls aus. War das erste Drittel ein wuchtiger Berg, fährt er nun ins Tal seiner Herzfrequenz. Albrecht ist entspannt fokussiert. „Viele Fans können sich nicht vorstellen, dass man als Eishockeytorwart vor allem einen geistigen Job bewältigen muss. Stehe ich richtig? Ist der Winkel gut? Weiß ich, wo die Scheibe ist? Verliere ich einmal die Übersicht, kann ich meinen Job nicht machen. Man ist wie ein menschliches Radar, das permanent nach der Scheibe sucht. Und man muss immer bereit sein, sich im Tor zu verbiegen, einen Reflex zu zeigen“, sagt Albrecht.
Obwohl Leipzig im Mitteldrittel besser reinkommt, jubeln die Piranhas zum dritten Mal. Connor Hannon, ein irischstämmiger US-Amerikaner, bringt mit einem Sonntagsschuss die Halle zum Überkochen. 3:1 – auch Albrecht fährt erleichtert eine kleine Ehrenrunde um sein Tor. Durchatmen. Jetzt erst mal den Puls runterkriegen. Er hat die Rechnung ohne seinen Teamkollegen gemacht.
Gerade als die Piranhas das Spiel kontrollieren, sich allseits der Nervenkitzel etwas beruhigt, passiert ein Desaster. Die Heimmannschaft hat den Puck, kann das Spiel aufziehen. Eigentlich. Dann verliert ein junger Verteidiger durch Leichtsinnigkeit die Hartgummischeibe. Albrecht, der gerade durchatmen konnte, dessen Herzfrequenz sank, muss innerhalb von Sekundenbruchteilen in den Alarmmodus schalten. Es gelingt nicht ganz – der allein aufs Tor stürmende Leipziger netzt ein.
Es sind Situationen wie diese, in denen sogar der besonnene Albrecht zum inneren Furor, zum Wutausbruch neigt. Albrecht erklärt: „Wir Torhüter werden an Statistiken gemessen, alles wird genau mitgezählt. Doch darin steht nicht, wie ein Tor passiert. Dazu kommt: Als Goalie fühlt man sich immer verantwortlich. Ich nehme wirklich jedes Gegentor persönlich – ob ich jetzt Schuld habe oder nicht. Ich will immer für die Mannschaft da sein. Das ist mein Job. Bekomme ich ein Gegentor, bin ich nicht da gewesen.“
Trotz der 176 Schläge pro Minute kann Borschtel schon bald wieder durchatmen. Die Piranhas machen das selbst gemachte Leid wett. 5:2 steht es nach 40 Minuten. Albrechts Puls sinkt im Vergleich zum ersten Drittel trotz wachsender Anstrengung.
4. Das Schlussdrittel
Nach wenigen Momenten im letzten Drittel beißen die Piranhas erneut zu. Die Raubfische führen 6:2. Das spürt auch Albrechts Herz. Schlug es sonst in jedem Drittel im Durchschnitt über 160 Schläge pro Minute, hat sich der Stresspegel etwas eingefangen. Bei 150 Schlägen im Mittel liegt der Torwart beinahe im entspannten Bereich.
Doch Leipzig, das spricht für den Gegner und für das Eishockeyspiel an sich, gibt nicht auf. Sie kommen auf 3:6 heran, Borschtels Herz jagt fast im Maximaltempo Blut durch seinen Körper. Fast 180 schlägt es nach dem Gegentreffer. Das Adrenalin kickt erneut. Erst als die Piranhas das 7:3 schießen, atmet der Torwart wieder durch und die Herzfrequenz sinkt. Man muss wissen: Wochen zuvor hatten die Piranhas zehn Minuten vor dem Ende mit 3:0 geführt – und dann doch noch 3:4 verloren.
5. Die Auswertung
Als Sebastian Albrecht vom Eis kurvt, gibt es warme Worte vom Vereinsvorstand und von den Teamkollegen. Trotz dreier Gegentore war der Torwart einer der Matchwinner. Beweglich wie ein Schmetterling flatterten seine Arme und Beine durch den Torraum. Albrecht hatte mit der Fanghand zugepackt, mit der sogenannten Stockhand geklärt. Und immer wieder hatte er im Zentrum eines Menschenknäuels gestanden, das ihn entweder bezwingen oder beschützen wollte. Eine der faszinierenden Eigenheiten des zeitweise archaischen Spiels? Im Eishockey ist der Torwart heilig. Nicht selten fliegen nur deshalb die Fäuste, weil ein Gegner den Goalie zuvor leicht angegangen ist.
In der Kabine feiern seine Teamkollegen ihren Helden. Egils Kalns überreicht ihm einen alten Torwarthelm, wie ihn Terry Sawchuck hätte tragen können. Es ist das Ritual des Teams. Wer sich am meisten reinhängt, wird nach dem Spiel in der nach Schweiß und Moschus duftenden Kabine besonders geherzt. Am Handgelenk auch bei diesem emotionalen Moment mit dabei: Albrechts Forerunner von Garmin.
„Das war verdammt anstrengend heute. Ein wildes Spiel. Hektisch, viel los bei mir, viel zu tun. Die Jungs haben es aber super wegverteidigt. Wie immer bei uns eine Teamleistung“, erklärt Sebastian Albrecht.
Aber was sagen nun die Daten nach Spielende?
Erstaunliches. In den 3:15 Stunden, in denen Albrecht seinen Puls aufzeichnete, verbrannte er 2.496 Kalorien. Dabei hatte er sich in der Zeit keine sieben Kilometer bewegt. Ein Goalie steht im Eishockey im Tor, und verbraucht dennoch mehr Energie als ein erwachsener Mann bei einem Halbmarathon.
Fast die Hälfte der Aufnahmezeit befand sich Albrecht in einem intensiven (01:09 Stunden) oder maximalen Leistungsbereich (26 Minuten). Und das, obwohl er als Torwart zumeist in seinem Torraum steht. Das Eishockeytor hüten – es ist eine unterschätzte Herkulesaufgabe.
Ach ja. Bleibt die Frage nach dem Unterschied zwischen Training und Spiel. Kurz und knapp: Die Diskrepanz ist beeindruckend. Liegt der Durchschnittspuls im Spiel bei 150 Schlägen, ist dieser beim Training um 30 Schläge niedriger.
Die Macht des Adrenalins – sie ist real.
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