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Corona: Die Rolling Stones vom Acker

Die Menschen bleiben zuhause. Doch Ärztinnen, Pfleger, Lkw-Fahrer und auch die Kräfte in der Landwirtschaft müssen trotz Corona raus. Unser Autor hat sie einen Tag begleitet.

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Wo Steine schlüpfen

Die Natur ist mächtig. Sie kann Felder versengen, Bäume entwurzeln, Dächer abdecken; Viren hervorbringen, die eine auf Fortschritt getrimmte Welt lahmlegen. Sie kann mit Fluten zerstören, uns aber auch mit Wind und Wärme beschenken. Sie versorgt Milliarden Menschen mit ihren Früchten. Doch dass die Natur auch Steine gebären kann, das habe ich noch nicht gewusst.

Es ist morgens um neun Uhr. Ein Traktor brummt neben einer Autobahn. Die Luft ist diesig. Graue Wolken kleben stoisch am Himmel. Ich stehe in Arbeitsschuhen vor einem Feld im Nordosten Deutschlands, auf dem sich in den wärmeren Monaten die Weizenähren biegen werden. Noch sind die Pflanzen klein und grün, fast wie Gras. Bald werden Mähdrescher die Ähren verschlingen und am Ende feines Korn ausspucken. Solange die Pflanzen klein gewachsen sind, gilt es Steine zu sammeln. Alle Brocken über Faustgröße müssen vom Acker aufgelesen und auf einen Anhänger geladen werden. Allein ein zu großer Feldstein im Mähwerk kann die teuren Maschinen ruinieren. Für Landwirte, die viel Geld in Technik investieren, eine fatale Situation. Die entstandenen Schäden und Arbeitsausfälle verursachen Kosten in fünfstelliger Höhe.

Du möchtest helfen? Auf dieser Plattform können Landwirte Helfer suchen – und Arbeitswillige ihren Support anbieten.

Ich frage meinen heutigen Arbeitskollegen Malte, ein schlaksiger Mann Anfang zwanzig, ob dieses Jahr das erste Mal auf diesem Stück Land Steine gesammelt werden. Der angehende Landwirt grinst höflich, obwohl ich etwas sehr Blödes gefragt habe. Er sagt: „Wir sammeln jedes Jahr Steine. Sie kommen immer wieder. Wir sind sozusagen steinreich.”

Die Welt kann an manchen Orten tatsächlich Steine gebären. Bei den Gesteinsbrocken, die hier liegen, handelt es sich um sogenannte Geschiebemergel. In der vergangenen Eiszeit brachten die wandernden Gletscher die Steine aus Skandinavien mit nach Mitteleuropa. Durch das Wechselspiel aus Bodenfrost und auftauenden Böden wachsen sie langsam aus dem Erdreich. Von unterirdischen Naturgewalten werden sie hochgeschoben, bis sie wie Pickel an die Oberfläche sprießen. Durch die Bodenerosion werden die Steine von Wind und Regen befreit. Manchmal liegen sie auf dem Feld, als wären sie vom Himmel gefallen.

Feld mit Mähdrescher im Sommer und rechts das Feld grün im Frühjahr
Das gleiche Feld in Hochsommer und Frühjahr. Damit die Ernte klappt, muss das ganze Jahr gebuckelt werden. © privat

Helfen in der Corona-Not

Dass ich heute auf dem Feld arbeite, hat mit den Folgen des Coronavirus zu tun. COVID-19 trifft viele Menschen ins Mark. Besonders gesundheitlich, aber zusehends auch wirtschaftlich und gesellschaftlich. In den Krankenhäusern, in Supermärkten, in Speditionen oder in allen anderen systemrelevanten Berufen leisten die Mitarbeiter momentan Übermenschliches. Wer oft bei den Aufzählungen vergessen wird: die Frauen und Männer in der Landwirtschaft. Die schuften fast immer in Überstunden, in diesen Tagen aber besonders hart.

Auch auf den Feldern und in den Ställen arbeiten Mütter und Väter, die ihre Kinder plötzlich vormittags und nachmittags betreuen müssen. Durch die Grenzschließungen fehlen Arbeitskräfte aus dem europäischen Ausland. Doch die Natur macht keine Pause. Wer im Sommer und Frühherbst etwas ernten will, muss die Felder bestellen. Säen, grubbern, pflügen. Und Steine sammeln. Was viele Menschen vergessen, erlebe ich am eigenen Leib: Nicht Supermarktregale produzieren Lebensmittel, sondern Frauen und Männer in Stiefeln und Latzhosen.

Da meine Eltern ebenfalls in diesem Bereich arbeiten, kenne ich die Landwirtschaft und die aktuellen Probleme. Ich will helfen und nehme mir einen Tag Urlaub. Wie sagen die Menschen auf dem Land: „Gefressen werden muss immer.”

Steine. Sammeln.

Die Arbeit ist vermeintlich simpel. Ein Traktor zieht einen kleinen Anhänger. Darauf stehen mein Kollege Malte und ich. Der Trecker fährt die Spuren ab. Ganz langsam. Wenn ein Stein auf der linken Seite der Spur auffällt, muss ich vom rollenden Fahrzeug springen, zum Objekt hasten, und dieses dann auf den Anhänger befördern. Liegt der Stein auf der anderen Seite vom Traktor, kann ich verschnaufen. Dann muss Malte ran. Er hat erst vor Kurzem eine Ausbildung bei einem weltweit aktiven Maschinenbauer abgeschlossen. Nun macht er seine zweite Lehre. Die Liebe zur Landwirtschaft wurde ihm vererbt. Der Acker, auf dem wir placken, gehört seiner Familie.

Die Arbeit ist gar nicht so einfach. Es gilt, viel Land zu befahren, insgesamt etwa 70 Hektar. Beinahe 80 Fußballfelder ließen sich auf dieser Fläche errichten. Etwa acht Stunden werde ich auf einer kleinen Plattform stehen, 40 Zentimeter breit, 40 Zentimeter tief, und aufmerksam nach Steinen spähen. Es müssen auch die Brocken aufgelesen werden, die der Boden noch zu verbergen versucht. Gut getarnt schauen nur die mit Modder oder Sand behafteten Spitzen heraus.

Mit einem Spaten graben wir diese Widerspenstlinge aus. Manche machen es uns leicht, sie kommen bereits beim ersten Stich entgegen. Andere Findlinge sind Schwergewichte, bestimmt 50 Kilo schwer. Wir müssen reichlich Erde ausheben, um sie zu packen. Ich sinke in die Russenhocke, umschließe den Stein mit den Armen und bugsiere ihn auf den Anhänger. Mindestens zwei Tonnen Gestein werden wir an diesem Tag bergen und abtransportieren. Manche Brocken sind so schwer und sperrig, dass wir sie „aufsacken” müssen. Der Findling wird auf einen leeren Sack aus Stoff gekippt. Anschließend packen Malte und ich an. Zwei Mann, vier Hände, vier Ecken. Das Stöhnen macht den Schmerz beim Heben erträglich.

Die Arbeit geht mit jeder Stunde mehr in die Beine, weil wir die ganze Zeit auf dem Anhänger stehen. Und wenn wir mal nicht stehen, eilen wir zum Stein, bücken uns, und spurten wieder zurück. Geschwindigkeit ist gefragt. Sobald es draußen schummrig wird, sehen wir keine Steine mehr. Viel Land, wenig Zeit, Findlinge überall. Arbeiten im Akkord.

Manchmal möchte der matschige Boden mir die Schuhe rauben, zwischen Spur und Pfütze versinke ich im Erdreich. Dabei ist das körperliche Ackern nicht das Anstrengendste. Im Kopf beginnt es zu dämmern. Die ganze Zeit auf den Boden zu schauen, Maulwurfshaufen und Steine unterscheiden zu müssen, fällt mir mit jeder Stunde schwerer. Die sinkende Abendsonne blendet. Der Boden verschmilzt zu einem blassen Grau. Sehe ich einen Stein, wird das Abspringen mühsamer. Der Traktor gurrt, und ich dehne meine Beine.

Die Arbeit hat auch etwas Romantisches. Auf der Autobahn summen Lastwagen wie blecherne Hornissen an uns vorbei. Der Fahrtwind zerfleddert mir die Haare. Die Sonne wärmt zunächst das Gesicht und verbrennt irgendwann die Nase. Meinen ersten Sonnenbrand bekomme ich dieses Jahr im März.

Redakteur Hannes versucht einen riesigen Stein anzuheben
Ein Mann. Ein Stein. Kein Leistenbruch. Training für den Einsatz auf dem Acker. © privat

Auch Scheißarbeit muss sein

Wir finden eine Kranichfeder auf dem Feld. Malte nimmt sie in die Hand und sagt, dass er ganz genau erkennen könne, ob ein Fuchs oder ein Raubvogel das Leben eines Kranichs ausgeknipst hat. Ich staune, denn ich sehe eine Feder, die aussieht wie jede andere Feder auch. Malte erklärt: „Ein Vogel reißt die Federn raus, ein Fuchs beißt sie ab. Diese Feder zeigt Bissspuren.” Ein Fuchs war es. Logisch. Aber wann denke ich schon über solche Sachen nach?

Ich lerne an diesem Tag viel über die Umwelt. Über Landwirtschaft. Über Tiere. Über Geologie. Vor allem aber von den Menschen, die hier arbeiten. Schon nach sechs Stunden kann ich nicht mehr. Ich habe vom vielen Bücken Bowlingbeine. Immer wieder schweife ich gedanklich ab. Die großen Brocken liegen zusehends schwerer in den Armbeugen. Malte leidet mit mehr Würde als ich, er beklagt sich nicht. Er sagt aber trotzdem: „Steine sammeln ist eine Scheißarbeit. Aber auch Scheißarbeit muss sein.“ Dabei hat er sogar Glück. Morgen, am Samstag, hat er frei, muss nicht vor dem Morgengrau im Stall die Tiere versorgen. Die haben auch am Wochenende und an Feiertagen Hunger.

Mein Feierabend trieft vor Schmerz. Nachdem die letzten Steine abgeladen sind, setze ich mich ins Auto, und komme zuhause angelangt nicht mehr raus. Mein Rücken ist um 40 Jahre gealtert, die Beine sind taub. Meine Finger wollen nicht so, wie ich will. Wie ein sehr alter Mann schäle ich mich aus dem Beifahrersitz. Die Frühfolgen von einem Tag auf dem Acker. Steine sammeln wirkt wie stundenlanges Kraftausdauertraining. Die ungewohnten Belastungen, die klobigen Gewichte, das dauerhafte Stehen und „Durchgeruckeltwerden“ haben meinen Körper an den Rand der Kapitulation geführt. Unter der Dusche sehe ich den Staub, der unter Hose und Jacke kroch und mir nun an Beinen und Füßen klebt. Nur langsam blättert der Schmutz unter dem Wasserstrahl vom Schienbein ab. Kleine Rinnsale bilden sich bis zu meinen Füßen. Nach mir muss meine Dusche selber eine Dusche nehmen, so viel Dreck habe ich vom Acker mitgebracht.

Aber dieses Dreckigsein fühlt sich verdammt gut an.

Der Morgen danach

Es gibt Kater. Und es gibt Kater. Ich komme nicht hoch. Der Rücken. Die Beine. Der Kopf. Ich leide selten laut, aber in diesem Moment möchte ich mich selbst verklagen: Warum hast du dir das angetan? Auf allen vieren suche ich Halt. So eine Arbeit bin ich nicht mehr gewöhnt. Trotzdem bin ich dankbar.

Aus gutem Grund. Während ich jammernd stöhne, stehen viele andere schon wieder auf dem Feld. Manche buckeln gerade in Doppelschichten, damit andere zuhause die Kinder betreuen können. Die Arbeit ist hart, auch mit modernen Maschinen. Ich schaue auf die Packung Milch, die im Kühlschrank steht, und schäme mich. 66 Cent, die günstigste Marke. Es ist pervers. Ist das meine Form der Wertschätzung für diese Alltagshelden? Die es nie leicht haben, schon gar nicht heute?

Viele Fragen geistern in den Köpfen der Bauern. Wer steht auf dem Acker, wenn nur ein Mitarbeiter krank wird und die Kollegen in Quarantäne müssen? Wer umsorgt die Kühe, schaut nach dem Raps? Vom Homeoffice lässt sich keine Kuh melken.

Zwei Tonnen gesammelte Steine
Weit über zwei Tonnen Gestein wurden insgesamt geborgen. Rechts im Bild: Das kleine Podest als Arbeitsplatz. © privat

Die Rolling Stones vom Acker

Zu helfen, mit Händen und Füßen, ist eine Option. Hilfe sei grundsätzlich gerne gesehen, sagt Axel Wiechmann, Agrarunternehmer aus Mecklenburg-Vorpommern. Mein Arbeitgeber für einen Tag, und Maltes Vater. Er sagt auch: „Es geht mehr um das Wollen als vielleicht um das Können. Grundsätzlich kann jeder helfen, unabhängig von Corona, zu jeder Zeit. Mit mehr Wertschätzung zum Beispiel. Im Supermarkt. In den Hofläden. Im Alltag.“

Am Abend nach meinem Arbeitseinsatz sehe ich einen Beitrag auf Facebook. Das ZDF-heute feiert die Alltagshelden dieser Tage. Alle systemrelevanten Berufe erhalten im Filmchen ihren verdienten Applaus. Alle? Fast. Die Landwirte kommen mal wieder nicht vor. Das ärgert mich. Für mich verdienen genau diese Alltagshelden dieselben Ovationen wie die Rolling Stones. Denn ohne sie wären die Regale wirklich leer.

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