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Timo Boll: Die Formel für Erfolg

Tischtennisspieler Timo Boll gehört auch mit 39 Jahren zur Weltspitze, weil er sein Rezept für langjährigen Erfolg gesucht und gefunden hat. Er verrät seine Formel in einem Gastbeitrag.

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Adrian Crișan. Alexei Smirnow. Vladimir Samsonov. Diese europäischen Spieler haben mich in der Vergangenheit zweifeln und verzweifeln lassen. Crișan, ein Rumäne, ein Taktiker, gewann beinahe jedes Spiel gegen mich. Egal, welche Mittel ich wählte, er fand trotzdem eine Strategie, um mir die letzten Nerven zu rauben.

Smirnow, ein Russe, konnte nur Top oder Flop spielen. Erwischte er einen prächtigen Tag, überfuhr er alles und jeden. Egal, wie gut ich die Bälle traf – er traf sie besser. Das war Gesetz. Hatte Smirnow einen schlechten Tag, misslang ihm jeder Schlag. Vor jedem Duell mit ihm hoffte ich, dass ich auf den schwachen Smirnow treffen würde.

Samsonov, ein Weißrusse, ein ehemaliger Weltranglistenerster, war das komplette Gegenteil, nämlich in jedem Match sehr gut. Ein beeindruckender Sportler mit einer faszinierenden Konstanz. Bei ihm wusste ich stets, was mich erwarten würde. Beruhigender war das nicht.

Der Anschub durch Niederlagen

Ich habe gegen diese drei Spieler einige besonders dramatische Matches verloren. Schaue ich mir alte Aufzeichnungen an, bin ich selbst überrascht, wie emotional ich reagieren konnte. Wie ein Heißsporn zeterte ich über Fehlschläge, die banalsten Punktgewinne bejubelte ich beinahe ekstatisch. Ich bin ein ruhiger Typ, sehr nachdenklich und eigentlich davon überzeugt, dass ich gar nicht anders als besonnen auftreten kann. Zu sehen, wie ich früher für meine Verhältnisse explodierte, verwundert mich heute.

Obwohl es gegen diese drei Spieler häufig fatal für mich ausging, bin ich mittlerweile unfassbar dankbar, dass ich gegen diese Rivalen spielen und verlieren durfte. Es ist ein vielversprechendes Training, gegen Sportler anzutreten, die einen an die eigenen sportlichen und mentalen Grenzen führen. Nicht nur Mut spendende Siege, sondern die zunächst frustrierenden Niederlagen haben mich zu einem besseren Tischtennisspieler und Athleten geformt. Heute, im reifen Alter, profitiere ich umso mehr von den Anschüben, die mir der Frust des Verlierens vermachte.

Verschwende keine Zeit

Apropos Alter. Ich werde nächstes Jahr 40. Seit mehr als zwei Jahrzehnten spiele ich auf einem hohen Niveau Tischtennis. Heute bin ich ein ganz anderer Spieler als damals.

Mit Anfang 20 bewegte ich mich geschmeidig. Ich zehrte von meiner Schnelligkeit und Athletik. Mein Körper war biegsam. Ich hatte Power im Arm. Eine meiner größten Stärken war die Rotation in meinen Schlägen. Ich konnte den Ball so hart treffen, dass er über 1.500-mal rotierte, ehe mein Gegner ihn zurückschlagen konnte. Das machte die Bälle für die Kontrahenten unberechenbar. Für diese Rotation braucht es Timing und Power. Menschen, die nur Tischtennis schauen, aber nicht selbst spielen, wissen gar nicht, wie wichtig Kraft in unserem filigranen Spiel ist.

Heute bin ich langsamer und hüftsteifer. 1.500 Umdrehungen kann ich dem Ball auch nicht mehr aufzwingen. Journalisten fragen mich – das ist so eine Standardfrage – warum ich trotzdem noch der Weltspitze angehöre. Meine Antwort ist simpel: Ich verschwende keine Zeit.

Tischtennisprofi Timo Boll beim Spiel
Verbissen im Spiel, sonst ganz locker: Ruhe ist für Timo Boll ein Schlüssel zum Erfolg. © Butterfly

Wenig fluchen. Wenig jubeln.

Früher fluchte oder jubelte ich nach Ballwechseln. Das passiert heute noch. Aber sehr viel seltener. Ist ein Ballwechsel vorbei, denke ich bereits an den nächsten Tanz. Ich muss die letzten Schläge blitzschnell analysieren. Was habe ich gut gemacht, was falsch? Hat sich ein technischer Fehler eingeschlichen? Tischtennis ist Physik. Ich suche nach den Anomalien, den Abweichungen in meinem Spiel, die zu Fehlern, etwa einem Schlag ins Netz, geführt haben.

Kurz darauf mutiere ich zum Schachspieler. Wie schlage ich auf? Welche Schwächen hat mir der Gegner offenbart? Wie kann ich ihn mit meinem dritten Schlag im kommenden Ballwechsel überrumpeln? Ich bin mit den Jahren tatsächlich so ruhig geworden, dass ich in den kurzen Pausen eines Spiels zum höchst produktiven Nachdenken komme. Und ich habe ein Urvertrauen in mein Können entwickelt. War ich früher zu pessimistisch, bin ich heute ein optimistischer Realist. Es gibt keinen Anlass, meine Nerven zu vergeuden. Spiele ich mein Spiel, kann ich jedes Match gewinnen. Je weniger ich mich ablenken lasse, desto erfolgreicher bin ich. Die Formeln sind einfach. Die wichtigste Variable für Erfolg: Ruhe.

Was sind meine Stärken?

Mit dem Älterwerden habe ich eingesehen, dass sich mein Spiel mit meinen verändernden Stärken und Schwächen arrangieren muss. Nur so bleibe ich konkurrenzfähig. Würde ich den jungen Boll, den von vor fünfzehn Jahren, imitieren wollen, hätte ich kaum eine Chance gegen Spitzenspieler.

Aber was sind heute meine Stärken? Diese Frage sollte sich jeder Sportler regelmäßig stellen. Ich habe Erfahrung, verstehe den Sport, bin kreativ. Ich gewinne Spiele heute mit dem Kopf. Ich schlage nicht so hart wie früher, aber präziser. Ich laufe nicht mehr so schnell, antizipiere dafür besser und haste eher nach den Bällen. Wer im Alter erfolgreich sein will, darf nicht von der Vergangenheit träumen. Er muss sich den eigenen Gegebenheiten anpassen. Jeden Tag aufs Neue.

Ich verlerne mein Spiel nicht mehr

Dazu gehören auch Kompromisse. Als junger Spieler habe ich das Training geliebt, ich lechzte danach. Fünf, sechs Stunden am Tag an der Platte, dazu Athletiktraining. Ich lebte, um zu spielen und zu trainieren.

Es ist ein Irrglaube, dass ältere Spieler zwangsläufig mehr machen müssen als jüngere. Heute trainiere ich nur zwei Stunden täglich. Höchstens 60 Minuten an der Platte mit einem Gegner oder einer Maschine, die mir die Bälle realitätsnah zuspielt. Dazu kommen Einheiten für die Athletik, Kondition und die nachlassende Schnelligkeit. Jüngere schnallen sich Gewichte an die Beine, um die Intensität zu erhöhen. Auf diese Flausen kann ich verzichten. Arbeite ich zu intensiv, schmerzen meine Muskeln. Ich muss die Belastungszeit, die mein Körper zulässt, ideal für mich ausnutzen. Nur so bin ich an etwa 100 Wettkampftagen in der Saison fit.

Das eigene Alter offenbart in diesen Zeiten noch einen anderen großen Vorteil. Durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie konnte ich sechs Wochen nicht mit einem Partner trainieren. War ich früher verletzt und musste eine ähnlich lange Zeit pausieren, bekam ich bei den ersten Trainings Probleme. Ich verfehlte Ball um Ball. Meine Technik ließ mich hängen. Ich wartete auf sie, doch sie kam nicht so schnell wieder. Sie hatte Allüren, ließ sich Zeit, verschmähte mich. Mittlerweile, durch Tausende Tage an der Platte, haben sich Reflexe zu Automatismen weiterentwickelt. Ich verlerne mein Spiel nicht mehr.

Tischtennisprofi Timo Boll mit dem chinesischen Top-Spieler Ma Long (links), Timo Boll auf dem Tacx-Rollentrainer (rechts)
Timo Boll absolviert Einheiten auf dem Tacx-Rollentrainer. © DTTB | Timo Boll Webcoach

Die Last des Leistungsdrucks

Gegen die chinesischen Topspieler nützen manchmal die besten Automatismen wenig. Die Dominanz dieser Nation ist im Weltsport einmalig. Der Fluss an Top-Spielern wird gut gespeist, er gilt als unerschöpflich.

Wer verstehen will, warum die Chinesen so gut sind, muss auf die Wurzeln des chinesischen Tischtennis schauen. Die meisten Top-Spieler trainieren bereits mit sechs Jahren unter Profi-Bedingungen. Die Platte ist dort wichtiger als die Schule. Jeden Tag wird an der Technik gefeilt, an den Reflexen, am Tempo. Aus den fantastischen Spielern werden irgendwann hervorragende Trainer. Es gibt in China unfassbar viele gewachsene Talente, weil jeder Hochbegabte einen gut ausgebildeten Coach bekommt.

Doch da ist der Leistungsdruck. Ich habe ihn selbst auf den Schultern gespürt und mit eigenen Augen gesehen, als ich in der chinesischen Super League spielen durfte. Mein Verein verlor seine ersten drei Matches. Der Trainer verlor sofort seinen Job. Keine Gnade.

Irgendwann im Saisonverlauf trafen wir uns zufällig wieder und ich fragte den Coach, was er gerade macht, also für welchen Klub er arbeitet. Er war ein guter Trainer, ein Mann mit Renommee. Er antwortete: „Ich trainiere wieder eine Mannschaft. Im Kindergarten.” Kein Witz. Das ist so, als ob der Trainer von Borussia Dortmund entlassen wird und seine einzige Chance für einen Neuanfang die Knirpsmannschaft in einem Dorfverein ist. Die Fülle an guten Spielern und Coaches erzeugt in Asien einen brutalen Leistungsdruck. Genau hier verbirgt sich das verwundbare Fleckchen der chinesischen Tischtennisasse.

Die Angst, zu verlieren

Mir kommt es vor, dass die chinesischen Spieler nicht deshalb alles geben, weil sie gewinnen möchten. Sie haben Angst, ein Match zu verlieren. Sie spielen gegen die Niederlage. Das macht sie von Beginn an extrem fokussiert. Unter europäischen Spielern plätschert ein erster Satz gelegentlich dahin, es ist ein Abtasten, richtig ernst wird es danach. Die weltbesten Chinesen spielen von Beginn an um alles. Das ist extrem imponierend und gleichzeitig gefährlich. Sie überrollen einen wie ein Zug. Und mit jedem Punkt Vorsprung, den sie holen, schwindet ihre Angst, zu verlieren. Sie kaschieren ihre Schwäche, indem sie Schlag für Schlag davonbrausen.

Wer es schafft, dran zu bleiben, die Furcht der Niederlage zu nähren, sie immer wieder aufflammen zu lassen, hat gegen diese Übermacht eine Chance. 2005 besiegte ich beim World Cup die besten drei chinesischen Spieler hintereinander. Viertelfinale, Halbfinale, Finale. Eine Schmach für eine gesamte Sportnation. Mit dem ersten Sieg gegen Ma Lin, meinem absoluten Angstgegner, schien ich in die Köpfe der anderen gekrochen zu sein. Den Hexenkessel von Lüttich, dieses Verschmelzen von Leistung und Stimmung, werde ich nie vergessen.

Das Gewinnen lieben

Ein ganz anderes Phänomen als bei den älteren chinesischen Stars erkenne ich bei der Jugend. Dadurch, dass die asiatischen Länder den Nachwuchs massiv fördern, spielen mittlerweile schon Dreizehnjährige auf Weltniveau. Dreizehnjährige! Haben die einen Angst, zu verlieren, ist mein Glück bei den Jüngeren, dass sie manchmal das Gewinnen fürchten. Schon einige Partien habe ich erst in dem Moment gedreht, als der Rivale Bammel vor dem Triumph gegen mich bekam. Die größten Gegner lauern stets im eigenen Kopf.

In meinem Leben habe ich viele Spiele gewonnen und oft genug verloren. Ich fürchte mich nicht mehr vor Niederlagen. Siege hingegen sind nicht so selbstverständlich, wie sie es vielleicht früher einmal waren. Ich habe keine Angst, zu verlieren, und auch keine Angst, zu siegen. Das Gewinnen beschert mir selbst mit 39 ein pulsierendes Glücksgefühl. Das ist im Tischtennis eine gute Voraussetzung, um noch ein paar Jahre erfolgreich zu spielen. Genau das habe ich vor.

Protokolliert von Hannes Hilbrecht

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